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Versäumt und vertan?

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Im März 1957 war eine der riesigen Hallen des Messegeländes in Paris von einer begeisterten Menge erfüllt. Hoch dekorierte Offiziere, Vertreter der Widerstandsbewegung, Jugendliche, Arbeiter und Bauern sahen sich in der echten Gemeinschaft einer politischen Idee vereinigt. Die Volksrepublikanische Bewegung (MRP) war nach einem von keinem Beobachter vorausgesehenen Wahlsieg zur stärksten Partei Frankreichs geworden. Zum erstenmal lernte Europa bisher unbekannte Namen kennen. Eine neue politische Führungsschicht übernahm die Leitung des Landes. Als der bedeutendste, um-jubeltste stand der Leiter der Resistance George B i d a u 11 auf der Tribüne. Er wurde als das große politische Genie der französischen, ja der europäischen christlichen Demokratie bezeichnet. Kurze Zeit später erlangten die christlich-demokratischen Parteien in sieben europäischen Staaten die absolute parlamentarische Mehrheit. Es durfte angenommen werden, daß sie die entscheidende politische Rolle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen würde.

Und jetzt, 1963? Ein müder und gehetzter Mann sucht Asyl in dem Land, das er zuerst bekämpft und dann teilweise durch seine Politik wieder in den europäischen Kreislauf gebracht hatte. Und die Partei, Vorbild für alle modernen Massenparteien der christlichen Demokratie? Sie ist aufgerieben, spielt nur noch eine bescheidene Rolle in Elsaß-Lothringen, ist aber sonst ohne Einfluß und von der politischen Verantwortung ausgeschlossen. Auch die übrigen christlichen demokratischen Parteien haben den Tribut der Abnützung zahlen müssen. Vielfach wenden sich die Wähler bereits anderen Gruppen und Persönlichkeiten zu. Nur die DC Italiens scheint noch ihre vitale Lebenskraft erhalten zu haben.

Können also — so wird die Frage lauten — am Beispiel Bidaults Rückschlüsse auf den Zustand der christlichen Demokratie in Europa gezogen werden? .,flt?!

Vision vor dem Tod

Der große französische Philosoph M o u n i e r hatte kurz vor seinem Tod eine lange Aussprache mit dem damaligen Generalsekretär der Jugendorganisation der NEI. Letzterer, erfüllt vom tiefen Glauben an die christliche Demokratie als die einzige neue politische Erkenntnis der Gegenwart, wollte und konnte die warnenden Worte des Sehers nicht begreifen. Und wie lautete die Warnung Mouniers?

„Die Zukunft wird der christlichen Demokratie nur dann gehören, wenn sie es versteht, jene Werte zu sichern, die sie als ihre Ausgangsposition betrachtet: Nämlich die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit. Wenn diese Parteien zu einem Apparat der Macht heruntersinken und an Stelle der großen Aussprache den Mechanismus taktischer Befehle setzen, werden sie sehr bald zugrunde gehen. Die christliche Demokratie darf nie Führer gebären, sondern Persönlichkeiten, die kraft ihres Willens und einer grundlegenden Überzeugung politische Probleme erkennen und lösen.“ Und Mounier fuhr warnend fort:

„Das MRP ist bereits auf dem Wege der Häresie. Die Kritik wird abgewürgt, die Versammlungen werden zum Schauspiel, in dem sich ein Chef feiern läßt. Die Partei erzeugt Tagespolitiker, manchmal sogar nicht die schlechtesten, aber sie verliert ihr Ziel und verzichtet auf den ideologischen Kampf. Sie sucht Ämter und Würden und weiß kein Programm weiterzugeben, um die geistigen und politischen Spannungen der Gegenwart zu lösen. Vielleicht kommt der nächste, befreiende Stoß aus dem deutschen Raum. Nach dem Opfergang der deutschen Christen wäre so etwas denkbar.“

Die Probe aufs Exempel

Nun, auch die deutsche CDU will nur noch als Partei der Macht angesprochen werden, eine ausgezeichnete Organisation zum Gewinn von Wahlen. Die meisten leitenden Herren wären sehr erstaunt, wenn man sie heute an jene Überlegungen nach den ersten Kriegsjahren erinnern würde.

Niemals wieder wurden die Ansätze zu einer echten Gesundung des deutschen Volkes in geistiger Hinsicht ernstlich wieder aufgenommen. Als Pragmatiker der Macht und Theoretiker der Taktik betrachten sie in kühler Abwägung die erstrebenswerten Positionen, ohne sich über die Auswirkungen im geistigen Bereich eine echte Rechenschaft abzulegen.

Eigentlich ist es ein Paradoxon: Die christliche Demokratie hat sich in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts oft im Gegensatz zu hoher Hierarchie entwickelt und wurde auch von vatikanischen Kreisen argwöhnisch betrachtet. Man denke nur an das Schicksal Marc S a g n i e r $ und seiner Zeitschrift „Sillon“. Gerade in einem Zeitpunkt, da die Kirche in. welthistorischen Gesten die Freiheit der Persönlichkeit, die soziale Gerechtigkeit unterstreicht und eine Reform größten Stiles eingeleitet hat, verkümmern die christlich-demokratischen Parteien in unfruchtbaren Diskussionen über Nachfolgefragen, streiten sich um Preise und Löhne und betonen die wirtschaftlichen Interessengegensätze.

Wie aus den Namen hervorgeht, besitzt die christliche Demokratie zwei Quellen; sie müssen unbedingt anerkannt werden, wenn die Parteien, die diesen Namen beanspruchen, auch den Gesetzen folgen wollen, unter denen sie angetreten sind. Die christlichdemokratischen Parteien sind in keiner Weise konfessionell gebunden, aber sie wünschten Menschen zu vereinigen, die Christen nicht nur dem Namen nach sind, sondern die sich bereiterklären, auch als solche zu handeln. Man kann den Christen nicht einfach für den politischen Gebrauch spielen und sich ansonsten dem reinen Gewinndenken hingeben. Man soll sich nicht als Christ bezeichnen lassen und den Rufmord systematisch als politische Waffe benützen. Es genügt nicht, bei feierlichen Gottesdiensten im Glanz eines Ehrensitzes zu paradieren, wenn dahinter nicht ein selbstbescheidenes Ringen um die Erkenntnis des Menschen in der Schöpfung dahintersteht.

Bidault — eine Mahnung

Schluß mit Personen, für die Christentum nichts anderes ist als ein geschicktes Spielen mit lauernden Hintergedanken auf etwaige Wählerstimmen. Christ im 20. Jahrhundert bedeutet Mut zum Bekenntnis. In der uns umgebenden Welt des Materialismus und einer ständigen großen Lüge sind jene Werte anzuerkennen, ohne die das Leben nur noch ein Sklavendasein bedeutet.

Leider trat an Stelle der Persönlichkeit nur zu oft der Apparatschik, der stumpfe Befehlsempfänger. Er wächst zum Ausdruck einer politischen Rich-

tung auf, die gerade das Gegenteil aussagen möchte. Niemand darf annehmen, daß mit diesen Methoden die heranwachsenden Generationen anzusprechen sind, die für politische Tatsachen weit mehr Gefühl haben, als es die meisten Würdenträger wahrhaben wollen.

Das Schicksal Bidaults sei die große Warnung. Er vertrug keine Kritik, mit ätzender Schärfe wies er jeden Versuch der Diskussion um seine Politik zurück. Er und viele seiner Nachfolger in Europa fühlten sich unabsetzbar und unersetzlich. Niemand dürfe, argumentierten sie, an der Weisheit ihres Denkens Kritik üben. Die Unbequemen, die ständigen Nörgler und sogenannten Querulanten wurden ins äußere oder innere Exil geschickt. Die Spannung zwischen politischen Menschen wurde der Uniformität des rein taktischen Geschehens geopfert. Die Gegensätze spielten sich demnach nicht mehr in der Ebene grundsätzlicher Erkenntnisse ab. In Wirklichkeit ent-

stand ein quälendes Feilschen und Handeln, unwürdig und unverständlich den Völkern und Europa und in keiner Weise mit dem bisherigen Erbe zu vereinen.

Die moderne Sünde

So gelangt man zur modernen Sünde der christlichen Demokratie. Sie hat der innerparteilichen Demokratie vielfach abgeschworen. Es besteht kein echter Blutkreislauf zu den Wünschen der Wähler, und noch weniger findet jene ständige Erneuerung statt, die ein Organismus vor der Erstarrung rettet. In personalpolitischer Hinsicht wird am Platz getreten. Es genügt, die Resultate von Kongressen zu untersuchen, auf denen personelle Entscheidungen getroffen werden. Da sind schon lange vorher die Namen bezeichnet, die Kandidaten ausgewählt worden, und ein jeder ist Phantast, der noch an ein freies Spiel der Kräfte, der offenen Diskussion zwischen Gruppen und Hügeln, denkt.

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