6598625-1953_23_03.jpg
Digital In Arbeit

Wahlen fur Europa

Werbung
Werbung
Werbung

Wieder suchen Propagandaredner auf den Plätzen die Massen wachzurufen; die Aufgeregtheit der einen steht in peinlichem Gegensatz zu der kühlen Gelassenheit der anderen. Und wieder einmal schleudern unter den Arkaden der Piazza Colonna kommunistische Stoßtruppredner ihre Tiraden in das Völkchen von Müßiggängern, das mehr amüsiert als empört den Worten folgt: „Diese Regierung von Korruptionisten und Verbrechern, die uns Arbeitern das Blut aus den Adern saugt, die im Solde des amerikanischen Imperialismus steht und lieber heute als morgen den Krieg vom Zaune brechen möchte, diese Regierung von Priesterröcken und faschistischen Reaktionären, die Demokratie, Presse- und Redefreiheit abgewürgt hat..Die Karabinieri im Hintergrund rühren sich nicht; sie sind Schlimmeres gewohnt. Nur einer zuckt mit den Schultern und meint: „Ich möchte wissen, was sie sagen würden, wenn die Redefreiheit nicht abgewürgt worden wäre.“

Das demokratische Spiel hat den Reiz der Neuheit verloren; nach der langen Zwischenpause des Faschismus hat Italien in den kurzen Nachkriegsjahren über Monarchie und Republik entschieden, für die Konstituante, für Senat, Kammer, Provinz- und Regionalräte und einige Male für die Gemeindevertretungen gewählt. Die Positionen scheinen festgelegt zu sein, beunruhigende Veränderungen sind kaum zu erwarten. Die Demokratie ist gesicherter Besitz, man darf dem Morgen mit Ruhe entgegensehen.

Diese lethargische Zuversicht einer breiten Schichte des Bürgertums ist es, welche die christlichdemokratische Regierung und die mit ihr wahlverbündeten Republikaner, Sozialdemokraten und Liberalen mit Besorgnis erfüllt. Ist wirklich keine Gefahr im Verzug? Können die Wahlen wirklich keine Ueber-raschungen bringen? Der politische Sekretär der Democrazia Cristiana, Guido Gonella, hat in den Spalten des Parteiorgans davor gewarnt, die Erreichung des Quorums von 50,01 % der Wahlstimmen für den Zentrumsblock als gegebene Tatsache zu betrachten. Aber nur, wenn dieser Prozentsatz erreicht wird, tritt das neue Wahlgesetz für die Kammer in Kraft, das dem Sieger durch die Gewährung einer Stimmenprämie die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit und damit einer stabilen Regierung ermöglicht.

Bei den Wahlen am 18. April 1948 hat die DC 48,5% der Wahlstimmen erreicht und der sozialkommunistische Block 31%; aber die Gemeindewahlen 1951/52 lassen eine ausgleichende Tendenz erkennen: die Sozialkommunisten rückten auf 35,5% vor, während die DC auf 36,2% zurückfiel. Zusammen mit den drei befreundeten demokratischen Parteien wurden 50,2% aller Wahlstimmen erreicht. Der bevorstehende Wahlgang am 7. Juni garantiert also keineswegs das Funktionieren des erwähnten Wahlsystems.

Fühlt man dem politischen Leben der Nation an den Puls, so möchte man annehmen, daß die Kommunisten die Zahl ihrer Anhänger im großen und ganzen erhalten konnten, ohne neue dazu zu gewinnen; die Linkssozialisten Nennis scheinen ihre Stellungen eher verbessert zu haben, obwohl zwischen ihrer Partei und der Togliattis keine programmatischen, sondern nur noch „historische“ Verschiedenheiten bestehen, wie der Präsident der „Friedenspartisanen“ Nenni selbst einmal zugegeben hat. Auf der extremen Rechten sehen wir den neufaschistischen Movimento Sociale in voller innerer Krise, die sich unzweifelhaft auch auf das Wahlergebnis auswirken muß. Aber auf der Rechten stehen auch die Monarchisten Lauros mit großen Siegeshoffnungen noch von dem schmeichelhaften Ergebnis der letzten Gemeindewahlen her. Wenn das klinische Auge der berufenen politischen Beobachter richtig urteilen sollte, so müßte .das mutmaßliche Ergebnis — falls das Quorum nicht erreicht werden sollte — ungefähr dieses sein:300 Sitze dem Zentrum, 180 dem sozialkommunistischen Block und 130 der äußersten Rechten. Damit würde jedoch für Italien eine Periode politischer Labilität anbrechen, ähnlich, wie sie Frankreich durchzumachen hat. Denn mehr als einmal hat man gesehen, daß Neufaschisten und Kommunisten sich in der Opposition brüderlich zusammenfinden.

Die Rettung des Parlamentarismus ist das Hauptziel der Regierung De Gasperi geworden, die Sicherung einer parlamentarischen Mehrheit ihr erstes Problem. Wenn auch begründete Hoffnung besteht, daß das demokratische Zentrum die fatale Hürde der 50,01 % nehmen wird, so ist es doch auch berechtigt, sich schon heute die Frage vorzulegen, was geschehen könnte, wenn der Sprung zu kurz ausfallen sollte.

Die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit durch die beiden extremen Gruppen kann von vornherein außer acht gelassen werden; Neufaschisten und Kommunisten mögen sich vorübergehend im Oppositionellen finden, niemals aber auf dem Boden einer gemeinsamen konstruktiven Regierungspolitik. Dazu ist die soziale und ideologische Struktur ihrer Parteiprogramme denn doch zu verschieden. Auf der anderen Seite bleibt die Democrazia Cristiana mit den gesicherten zehn Millionen Wählern das stärkste Kraftzentrum, ein Massekern, der andere Gruppen anzuziehen vermag. Die Frage ist nur, auf welcher Seite die neuen Verbündeten gesucht werden können, falls die alten Alliierten des demokratischen Zentrums, die Liberalen, Republikaner und Sozialdemokraten, versagt haben sollten. Nenni hat immer wieder, aber stets in sehr verschwommener Weise, angedeutet, daß eine Lösung des Solidaritätspaktes mit den Kommunisten und eine Beteiligung an der Regierung neben den Christlichdemokraten möglich sei. Aber De Gasperi ist der Mann der Atlantik-Politik, der Vorkämpfer aller europäistischen Bestrebungen; Nenni ist der erbitterte Gegner des Atlantikpaktes, glaubt an eine Neutralität Italiens (an die Stalin selbst nicht glaubte) und erweist sich geradezu als Nationalist, wenn es die Durchkreuzung europäischer Einigungspläne gilt. Aus dem gleichen Grunde, wenn schon aus keinem anderen, ist eine Verbindung der DC mit den Neufaschisten unmöglich.

Anders liegt die Sache bei den Monarchisten, die vielleicht 40 Abgeordnete in die Deputiertenkammer werden entsenden können. Die Monarchisten erfreuen sich starker Sympathien bei den Katholiken und beim Klerus im Süden, zum Unterschied vom Movimento Sociale sind sie „atlantisch“ eingestellt. Diese positiven Momente rücken eine neue Allianz zwischen De Gasperi und Lauro in den Bereich der Möglichkeit. Doch es gibt auch eine negative Seite: der Partito Nazionale Monar-chico ist erzkonservativ und nationalistisch ausgerichtet; es würde auch nicht das Prestige der jungen Republik heben, wenn diese, um existieren zu können, der Unterstützung der Monarchisten bedarf. Es gibt noch einige andere incognita in dieser Verbindung: wieweit sind die Monarchisten bereit, die Frage der konstitutionellen Revision beiseite zu stellen? Und weiter: Wird die Democrazia Cristiana selbst die Schwenkung nach rechts in ihrer bisherigen Geschlossenheit mitmachen? Ist nicht ein Ausbrechen ihres linken Flügels zu befürchten? Die Sozialdemokraten und Republikaner würden auf jeden Fall in die Opposition gehen. Die Auflösung des Zentrums und damit eine weitere Radikalisierung des politischen Lebens würde die Folge sein.

Der 7. Juni ist also für die italienische Nation nicht weniger schicksalhaft als der 18. April 1948, als der Bolschewismus von den Barrikaden vertrieben wurde. Aber es gibt einen beunruhigenden Unterschied: Während sich die Masse der italienischen Wähler im Jahre 1948 voll bewußt war, was auf dem Spiele stand, wiegt sie sich heute in einem Gefühl der Sicherheit, das einer nüchternen Analyse der Tatsachen nicht standhalten kann. Daher die Kassandrarufe Gonellas. Auch im übrigen Europa hätte man allen Grund, den Ausgang der Wahlen mit Gespanntheit zu erwarten und die Hoffnungen und Besorgnisse der Italiener zu teilen, als ob man unmittelbar selbst betroffen würde. Denn dies ist wirklich der Fall. Die Wahlen in Italien, weit davon entfernt, eine innerpolitische Angelegenheit des Landes zu sein, haben europäische Bedeutung, mehr noch, sie sind Wahlen für Europa. Eine Niederlage De Gasperis wäre eine Niederlage der Europäischen Union, genau so wie es eine Niederlage Adenauers in Deutschland sein würde. Ohne Rom und Bonn gäbe es keine europäische Integration mehr; ohne Italien gäbe es keine Europäische Verteidigungsgemeinschaft; Paris hätte seinen Sinn verloren und nach Paris bald auch Luxemburg, da auch die Montan-Union gefährdet sein würde. Um nicht von Straßburg zu reden, „dem Elefantenfriedhof, wohin die großen Ideen ■wandern, um zu sterben“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung