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Der Falter

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Es war in der Zeit der Allongeperücken und Reifröcke, als an einem wunderschönen Sommertag die Komteß Marie-Charlotte in einer goldverschnörkelten, plüschbezogenen Reisekutsche, hintenauf die betreßten Diener, ihrem Bräutigam entgegenfuhr. Neben ihr saß die gestrenge Frau Aja, deren Regiment heute zu Ende ging und die nochmals mit prüfendem Blick die Toilette der jungen Braut musterte, jedes Fältchen des Gewandes besah und jede Haarsträhne der Frisur.

Fürwahr, es war nichts auszusetzen an der jungen Komteß. .Sie saß da, zart und jugendlich, in ihrem rosa Kleidchen wie eine eben erwachte Blüte. In ihren großen neugierigen Kinderaugen lag die Erwartung des Kommenden. Bisweilen tat sie mit ihnen einen Blick auf die draußen in der warmen Sonne vorüberziehenden Felder, bisweilen einen hinter sich durch das Guckfensterchen. Da sah man den zweiten Wagen nachfahren, in dem Mama mit der Ehrenibegleitung saß.

Ihr war so wundersam zumute, nicht zum Lachen und nicht zum Weinen. Nur das war ihr bewußt, daß etwas Fremdes und Neues in ihr Leben trat, dem sie klopfenden Herzens und mit etwas bänglicher Erwartung entgegensah. Während Frau Aja sich langweilte und darüber einnickte, sah* sie durch das Wagenfenster auf die Landschaft hinaus. Und ganz plötzlich überkam sie der brennende Wunsch, ein ganz anderes Leben zu führen, dort irgendwo über die Felder zu wandern, in einem ganz einfachen Kittel und groben Schuhen, wie sie es an den Dorfkindern gesehen; ein Leben zu führen, in dem kein Schritt festgelegt und bewacht war, in dem es keine Lektionen, keine Tanzstunden und keine gestrenge Frau Aja gab. Aber das waren nur annütze Träume,denn jetzt mußte die Wirklichkeit ihr Recht haben.

Eben jetzt umfing das Baumdunkel eines großen Parks den Wagen. Dann war es wieder hell. Und mit einem Male hielt der Wagen, Rufe und Befehle ertönten, der Wagenschlag wurde geöffnet und die Komteß stieg blinzelnd in die Sonne hinaus. Da stand sie nun, etwas zaghaft und beschämt, und sah zu Boden, während der Bräutigam mit langsamen, gesetzten Schritten auf sie zutrat. Sie nahm sich zusammen und wagte ihn anzusehen. Et war schon in reiferem Alter, das Trauerjahr um die erste verstorbene Gattin war kürzlich abgelaufen. O ja, er war ein stattlicher Mann. Unter der weißgepuderten Perücke sah ein strenges Gesicht hervor, wie es alte Diplomaten oder Soldaten haben. Der reichverzierte Degen klinkerte an der Seite, als er näher kam, Komteß Marie-Charlotte, schüchtern, streckte ihm die Hand entgegen.

Da geschah es, daß von ungefähr ein Falter aus der blauen Luft gesegelt kam und sich auf die ausgestreckte feine Mädchenhand setzte. Dort blieb er ein paar Herzschläge lang sitzen, wippte mit den Flügeln und strich mit den Fühlern umher. Frau Aja aber schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn; der Bräutigam blickte mit strengem Erstaunen drein. Denn die junge Braut sah nicht auf ihn und nicht zu Boden, sondern sah auf den Falter, wie er jetzt von ihrer Hand aufflog und wieder in die blaue Luft davonschaukelte, unibekümmert in seiner grenzenlosen FreiheJti

Aber da kam Bestürzung über die Miene der Frau Aja und der Bräutigam hielt erschrocken die zitternde Mädchenhand in der seinen, über die heiße Tränen tropften* Denn die junge Braut weinte.

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