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DER TOD DES MATROSEN

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Eines Tages war er plötzlich da! Der Matrose Jens Olsen. Niemand wußte, was ihn hergebracht hatte. Er stand am Kai mit breitem Lächeln, olivenfarbenem Zigeunergesicht und einem benefits abgenützten Seesack über den Schultern. Lehnte an der Mole und betrachtete den Ort, dessen Häuser hügelan einen großen Teil des überschaubaren Geländes bedeckten. Dann gab er sich einen kleinen Ruck — gleichsam, als wolle er sich zu einem besonderen Unternehmen ermuntern — und schlug dem Weg zum Markitplaitz ein. Im Gasthaus „Zum roten Tiger“ ließ er sich ein Zimmer geben — und war von nun lan jeden Abend in der rauchigen, von allerhand Völk besuchten Wirtsstube anzutreffen.

Am Anfang dachten sich die Leute nichts dabei, Matrosen kamen öfter an Land. Obwohl der Ort eigentlich keinen richtigen Hafen besaß. Einige Fischkutter und Motorboote, welche einen Pendelverkehr zur nächsten größeren Stadt ermöglichten, konnten eine derartige Bezeichnung kaum rechtfertigen. Die Bewohner des Ortes hielten sich mehr an die Landwirtschaft. Die See hatte — wohl wegen der ungünstigen geographischen Lage des Ortes und der fischarmen Gewässer — für sie immer eine zweitrangige Bedeutung gespielt. Die Matrosen also, welche am Sonntag oder auch an Wochentagen in Gruppen den Kai bevölkerten, kamen meist aus der Stadt, um sich hier nach jungen Mädchen umzusehen, ein Glas von dem bekannten rosaroten Wein zu trinkėta — oder gleich beides auf einmal zu tun. Ihre immer etwas verwegen wirkenden Gestalten, denen Abenteuer und Unternehmungsgeist selbst im frisch gebügelten Sonntagsanzug zu sitzen schien, waren daher für die Leute des Dorfes zum gewohnten Anblick geworden.

Aber daß einer dieser ortsfremden Jungens zuerst Tage, dann Wochen und schließlich sogar Mctaate blieb — das hatte man noch nie erlebt. Das trieb die Neugierigen in die Wirtsstube „Zum roten Tiger“, um hier den seltsamen Gast zu sehen. Und sämtliche Gesprächsthemen begannen in Kürze um seine Person zu kreisen.

Vor allem die zahllosen Geschichten und Geschichtchen, welche er äußerst redegewandt ziu erzählen wußte, hatten es den Leuten angetan. Man erfuhr nicht alle Tage solche Dinge in dem kleinen Ort. Die Bewohtaer waren bescheiden hier, sie gingen ihrer Arbeit nach und alles, was sich außerhalb der heimatlichen Sphäre befand, erfüllte sie mit Mißtrauen, das durchsetzt war von halben Ahnungen, welche vage und wenig dauerhaft wie eine ständige Möglichkeit ihr Leben zu umkreisen schien, ohne jedoch greifbare Gestalt anzunehmen. Es bestand daher ein seltsamer Gegensatz zwischen der kleinbürgerlichen Enge, die den Ort beherrschte, und der grauen Weite des Meeres, die sich ins Unbestimmte verlor Unbestimmtes und darum alles versprechend.

Ein Gegensatz, der sich im Charakter der Bewohner wiederfand, der sie schwanken ließ zwischen Kleinmütigkeit und Draufgängertum, Mißmut und Prahlerei. Der sie für kleine Tratschgeschichten ebenso empfänglich machte wie für eine gewisse Großspurigkeit, die sich häufig dann äußerte, wenn von Politik, den steigenden Marktpreisen und dem allgemeinen Fortschritt die Rede war. Trotzdem jedoch vertrauten die Leute des Ortes mehr ihrem bodenständigen Instinkt als einer unsicheren und durch nichts zu beweiseta- den Schwärmerei.

Man tat daher vorerst Jens Olsens Geschichten als völlig unglaubwürdig ab. Mußte doch kein Wort wahr sein von dem, was dieser Fremde erzählt! Konnte ja jeder tun! Setzt sich einfach rein in die gute Stube und tischt Geschichten auf. Führt vielleicht alle an der Nase rum! Und lacht sich insgeheim ins Fäustchen.

Aber allmählich konnte man sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. War doch allerhand, was man da so erzählt bekam! Richtig sotaderbar mußte einem dabei werden! Ob die Welt wirklich so aussah, außerhalb des eigenen, begrenzten Wirkungskreises. Schließlich konnte man es nicht so genau wissen. Es gilbt tausend Dinge, die ein gewöhnlich Sterblicher nur ahnt. Und dieser Jens hat wohl allerhand gesehen! Ist bei dem Leben in die Schule gegangen! Langsam fanden die Leute Gefallen daran. Es gab ohnedies nicht viel Zerstreuungen in dem Dorf. Da war man für ein bißchen Abwechslung datakbar. Und er konnte ja recht unterhaltsam sein, der Kerl! Tausendsassa, der er war! Hatte die Welt im Sack! Und die Frauen an der Kandare! Ihm konnte niemand was vormachen. Nein — nicht ihm, Jens Olsen! Geld hat er nie gehabt. Besaß er welches, ging es sogleich den Weg allesIrdischen. Rann die Kehle hinunter oder wurde mit einem Mädchen durchgebracht! So ist das Leben! Heute sonnig, morgen trüb! Bist du dem Glück begegnet, dann laß es nicht wieder laufen, und hast du Pech gehabt, wisch dir die Augen aus. Das war er — Jens! Die Leute schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen und das Gastzimmer „Zum roten Tiger“ hatte bald keinen leeren Platz mehr aufzuweisen. Der Wirt rieb sich die Hände und segnete den Tag, an dem er Jens aufgenommen und beherbergt hatte. Er bot ihm freie Unterkunft und Verpflegung, wenn er dafür als Gegenleistung ein volles Haus einbrachte. Bald waren die „Abende bei Jens Ölsen“ zu einer regelrechten Einrichtung geworden. Wußte man nach vollendetem Tagewerk nicht, wie man sich die Zeit vertreiben sollte, so ging man zu Jens Olsen. Und kehrte befriedigt und mit dem Geschmack von Abenteuer und großer, weiter Welt auf der Zunge ins eigene, bescheidene Heim zurück.

Das ging so eine ganze Weile.

Bis die dunkelhaarige, schlanke Witwe kam. Kathleen wurde sie gerufen. Sie hatte eine sanfte Stimme und hungrige Augen. Eines Abends betrat sie die Gaststube „Zum roten Tiger“, setzte sich an den Tisch und begann Jens Olsen atazusehen.

Von diesem Augenblick an war es um ihn geschehen. Er geriet ins Stottern und konnte keinen Saitz mehr zu Ende sprechen. Sie hat ihn behext — flüsterten die Leute, und die Gaststube „Zum roten Tiger“ wurde leer. Statt dessen sah man Jens täglich den schmalen Weg zum Hügel hinaufsteigen, auf dem die Witwe ein Haus besaß. Es war ein schönes Haus mit Blumen rundherum und einem gepflegten Garten. Sie hatte es von ihrem Gatten geerbt. Seit damals, als sie ihn mit zerschmetterten Gliedern vor ihre Tür gebracht hatten (er war bei eitaem Bergrutsch ums Leben gekommen zur Zeit der Regenperiode, als es wochenlang vom Himmel goß), waren etliche Jahre vergangen. Aber noch war sie jung, die Witwe Kathleen. Noch war das Laben nicht vorbei. Das Korn ist am schönsten, bevor der Schnitter kommt, und die Blumen am üppigsten, ehe sie verblühen. Und sie hatte das eintönige Leben im Dorf schon lange satt. Sie begann ihren geregelten Tageslauf zu hassen und erlebte in ihren Träumen all das Wunderbare, das ihr das Leben vorenthielt.

Und da war nun eitaer, der erlebt hatte, wovon sie träumte. Sie wollte ihn haben — das wußte sie. Hier lag für sie eine Chance. Wenn ihr ein Leben inneren Reichtums nicht gegeben war — dann wollte sie sich mit jenem eines anderen schmücken.

Und sie bekam ihn. Bald war das Paar Jens und Kathleen eine ausgemachte Sache für die Leute im Dorf. Jens zog seinen schon etwas abgenützten Seesack unter dem Bett im Zimmer „Zum roten Tiger“ hervor, packte seine wenigen Sacheta zusammen und zog hinauf in das schmucke Haus zwischen den Blumen. Die Hochzeit wurde in aller Stille begangen. Der Pfarrer segnete sie.

Eine um so heftigere Aktivität begann Kathleen nach ihrer Trauung zu entfalten. Sie lud Freunde ein und Bekannte. Es hieß: Jens, erzähl dies, und Jens, erzähl das. Sie gab die Stichworte zu den jeweiligen Geschichten und kannte sich in seinem Repertoire bald besser aus als er selbst. Daß sie manchmal eine Kleiiinigkeit dazudichteite, fiel ihr nicht weiter auf. Jens aber tanzte an den Fädeta, die sie spann. Er reagierte auf jede ihrer kleinsten Bemerkungen, er fiel dort ein, wo sie abgebrochen hatte, versuchte durch ihre Blicke und Bewegungen zu ergründen, welche Handlungsweise jetzt angebracht sei. Er lachte, wenn sie lachte, und nickte zusrtim- mend mit dem Kopf, wenn sie etwas für gut befand. Er lief stundenlang in glühender Hitze oder prasselndem Regen zum Krämer, wenn sie irgendeinen Wunsch geäußert hatte, utad konnte er das Verlangte nicht auftreiben, so schien er völlig gebrochen und nahm die Schimpfworte, welche ihn bei seiner Rückkehr erwarteten, beinahe dankbar an. Er säuberte und fegte das Haus, goß und pflegte die Blumen, strich die Fensterläden und den Gartenzaun und verrichtete ansonsten Arbeiten jeder Art.

Der stolze Jens! Jens Olsen, der mit seinen Abenteuern geprahlt hatte und auch sonst ein ganzer Kerl schien. Er war nicht wiederzuerkennen. Die Leute sagten: Er iisrt Wachs in ihrer Hand. Aber das sagten sie nur am Anfang. Später wurde es nämlich noch viel schlimmer. Wenn sie ihn schlug — und das geschah nicht selten —, dann lächelte er demütig und wartete nur, was weiter mit ihm geschah. Lud sie ihre zahlreichen Freunde ein, so führte sie ihn vor wie eine erbeutete Trophäe. Sie ließ ihn in eitaem ihrer besten Stühle Platz nehmen und meinte: Jens — erzähl! Wie war es damals… als… ?

Und Jens erzählte! Doch schien er es allein für sie zu tun. Seine Augen hingen an ihren Lippen, als wollten sie jeden ihrer kommenden Wünsche im voraus ahnen. Die übrigenAnwesenden zählten nicht für Ihn. Er sah durch sie hindurch, als seien sie Glas oder nicht vorhanden. Kathleen aber gab sich wie eine geschmeidige Katze. Ihre Augen funkelten, sie lächelte und rieb sich schnurrend an der allgemeinen Bewunderung. Sein Leben gehörte ihr! Sie hatte es in ihren Besitz genommen. Allmählich begann sie sich damit zu identifizieren. Es kam häufig vor, daß sie meinte: Weißt du noch, als … ? Und es folgten lange Schilderungen, die er durch beifällige Zwischenbemerkungen unterbrach, und dann lachten sie beide oder der eine pflichtete dem anderen bei. In solchen Augenblicken waren sie sich völlig einig, und dies schien ihnen das Selbstverständlichste von der Welt zu sein.

Manchmal liebte sie ihn heftig. Dabei begann sie ihn mit Vorwürfen zu quälen, ersann die sinnlosesten und unwahrscheinlichsten Argumente, forschte nach Zusammenhängen in seinen Geschichten, die ihr auf irgendeine Art und Weise verdächtig schienen, wollte jedes seiner Abenteuer bis in die kleinsten Einzelheiten wissen, um daraufhin nur noch mißtrauischer zu werden in der Annahme, daß er ihr doch etwas verschwiegen hatte.

Damit sich dieses innere Besitzergreifen jedoch auch nach außen hin manifestierte, sorgte sie dafür, daß die Räume ihres Hauses mit allerhand ausgestopften Vögeln und Tieren und die Wände mit bunten Photographien geschmückt waren, welche sämtlich Jens’ Geschichten zu verbildlichen hatten. Städte gab es da und Dörfer, Landschaften und Menschen. Lächelnde Südseemädcheta, harte Nomadengesichter, indische Fakire und pakistanische Tempelhüter. Buddhistische Tempel wuchteten neben schlanken griechischen Säulen und türkische Moscheen prunkten neben monumentalen Pyramiden. Und das alles aneinander und teilweise sogar übereinander geklebt, ergab eine farbige, tausend seltsame Aspekte bietende Tapete, deren Anblick immer neue Assoziationen in ihr hervorriefen und Jens’ Geschichten absolute Gültigkeit verliehen.

Dann wurde Jens Olsen krank. Das geschah so plötzlich und unerwartet, wie er damals in das Dorf gekommen war. Niemand wußte diese Krankheit zu deuten. Die Ärzte allerdings meinten, daß das Gift schon lange in seinem Körper gewesen sei. Ohne daß er selbst und seine Umgebung etwas davon bemerkt hatten.

Er verfiel zusehends. Sie saß an seinem Bett und beobachtete ihn. Sein Gesicht war grau und kalt mit jenen ganz bestimmten Linien, die das Sterben künden. Es war schon fern, dieses Gesicht, schon verlassen, sehr allein. Es war bereits Stein geworden, es hatte vergessen.

Das Zimmer roch nach Tod. Draußen der Wind vom Meer und das trockene Rascheln von Ginsterstauden. Draußen das fleischige Rot vieler Blumen.

Sie suchte ihn, Jens Olsen. Ihre Augen, immer noch hungrig und warm, irrten über die sauberen weißen Laken. Uber eine Hand, die bereits verfärbt und nicht mehr die seine war, über ein Gesicht, das nicht mehr das seine war, zu den bunten, lächelnden Bildern an den Wänden und den ausgestopften Tieren mit dem starren Ausdruck zeitloser Grimassen. Sein Leben und damit auch ihres rann wie Sand zwischen den Fingern, wie Sand in der Sanduhr, unaufhörlich, rann und es gab kein Aufhalten, keine Wiederkehr. Sie spürte, wie Angst ihre Kehle hinaufkroch, ihre Augen waren plötzlich ganz groß und alles, alles schien sich darin zu spiegeln. Das Leben und der Tod! Dieser Augenblick — nie mehr! Dieser Augenblick — vorbei! Sie senkten den Kopf! Herr, Dein Wille geschehe! xfeis-'b :

Da bewegte sich der Kranke,'Als sie aufblickte, sah sie, daß er lächelte. Es war ein seltsames Lächeln, das alles wußte, alles vergab. In denn sich die Unterschiede aufgehoben hatten. Ein erstarrtes Lächeln, ähnlich den Grimassen, mit denen die ausgestopften Tiere das Zimmer füllten. Sie sah es an. Dann fühlte sie, wie alles um sie zu schwanken begann. Die farbigen Photographien, die Tiere, die Vögel, die Sprüche an den Wänden. All das, womit sie ihr Leben untermauert, gefestigt zu haben glaubte. Und ein Verdacht stieg in ihr hoch, wurde mächtig, wurde riesengroß! Der Verdacht, das alles Lüge gewesen war. Die seltsame bunte Welt, in der sie gelebt hatte. Jens’ Geschichten, seine Anekdoten und Erlebnisse. Erfindung war es gewesen, was sie für Wirklichkeit hielt, Phantasterei, woran sie geglaubt hatte. Denn diesen Jens, mit dem sie prahlte, diesen Jens, dessen sie sich so sicher schien — ihn gab es nicht. Er hatte nie existiert. Er war ihr Wunschbild gewesen, das Wunschbild, welches sie brauchte. Jens hatte es ihr verschafft. Ein Spielball war sie gewesen für ihn, den sie zu besitzen glaubte. Genarrt hatte er sie. Und diese ungeheuerliche Wahrheit benahm ihr den Atem. Sie versuchte etwas zu finden, einen Faden, der sie mit ihrem früheren Leben verband. Umsonst! Diesen Mann mit dem grauen Gesicht zwischen weißen Laken, mit einem Lächeln, das wußte, mit einem Lächeln, das vergab, hatte sie nie gekannt! Mit ihm hatte sie nichts zu schaffen. Ein Fremder war er! Gekommen von irgendwo.

Und die Angst trieb sie hoch — weg vom Bett des Kranken. Schluchzend und am ganzen Leibe zitternd lief sie aus dem Zimmer.

Während Jens Olsen starb.

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