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Die Sozialisierung des Menschen

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MENSCH UND GESELLSCHAFT („Kollektivierung” und „Sozialisierung”). Von Jakobo Winner. Verlag Duncker & Humbolt, Berlin. 618 Seiten, DM 68.60.

Aus der Verdichtung der gesellschaftlichen Prozesse entsteht über eine Verrechtlichung der Gesellschaft immer mehr Staat. Dadurch kommt es zu einer um so stärkeren Diszi-’ plinierung des Menschen, zu einem sozialen Zwang. Die Spannung des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft nimmt zu und wird zu einem der Sachverhalte, die heute von jener Soziologie besonders nachdrücklich untersucht werden, die sich nicht als derart wertfrei versteht, daß sie schließlich auf angewandte Mathematik und zur Auftragsoziologie absinkt.

Das vorliegende Werk, das den Ordinarius an der Linzer Hochschule Jakobus Wössner zum Verfasser hat, ist damit befaßt, einen dogmen- geschichtlichen Überblick über die Sozialtheorien zur Relation von Einzelmensoh und Gesellschaft zu bieten.

Die jeweilige Form und Intensität der Sozialisierung des Menschen ist sowohl sachlich bestimmt als auch durch Ordnungsvorstellungen gewillkürt. Das soziale Feld ist nicht mehr eng-lokal, sondern expandiert in Richtung auf globale Maße; es kommt zum „Kollektiv-Sozialen” (S. 16). Gerade deswegen muß die Soziologie mehr denn je die anthropologische Komponente ihrer Forschung beachten, um nicht den Ursprung zu verlieren, und davon ausgehen, daß Gesellschaft keine komplexe Summe von ent-mensch- lichten einzelnen ist, sondern ein Baugesetz hat, das auf dem Menschlichen begründet ist. Der Verfasser spürt den Interpretationen dieses Baugesetzes in den soziologischen Theorien nach und sucht gleichzeitig die Konstanten des menschlichen Verhaltens in seiner Konfrontation mit der Gesellschaft zu ermitteln.

Die Gesellschaft wird als Humangesellschaft, als Vollgesellschaft, erst seit dem Christentum verstanden, das dem Humanen im Menschen Aufwuchschancen gibt wie keine Religion und Denkweise vorher. Darin liegt eine der Bedeutungen der Kirche; insoweit bietet das Buch auch religionssoziologische Ansätze.

Vor allem die Neubewertung der Erwerbsarbeit durch das Christentum, die später alle Sozialismen übernehmen werden (Arbeit — „Cooperatio cum deo”) führt zur tendenziellen Egalisierung der Menschen, die ehedem in den sich bereits selbst reflektierenden Gesellschaften in Müßiggänger und in Erwerbstätige aufgegliedert gewesen sind. Aus dem homo politicus entwächst über den homo socialis im Sinn christlicher Auffassung die homo mensura — Hypothese.

Durch die Kommerzialisierung des Denkens und die dementsprechend geformten allgemeinen Verhaltensleitbilder wird die Gesellschaft der Neuzeit ökonomisiert; es kommt als Folge der Säkularisierung zu einer neuerlichen Bedrohung des Menschen in den Chancen seiner personalen Entfaltung als Folge der sach- konformen Weise der Sozialisierung des Menschen. Daher untersucht die moderne Soziologie nachdrücklich die Wirklichkeit des Sozialen, das nicht nur eine moralische Kategorie, sondern auch ein Gegenstand der Wissenschaft ist.

Im zweiten Teil ist der Verfasser bemüht, das Grundthema systematisch durch Ausgang vom sozialen Feld darzustellen. Gleichzeitig weist W. darauf hin, daß keine Form der Sozialisierung das Menschliche im Menschen aufzuheben vermöge. Im Gegenteil. Wenn man das Soziale nicht zu hypostasieren, zu vergegenständlichen sucht, kann es prinzipiell nur als eine Chance zur Förderung der menschlichen Anlagen verstanden und in Form von (sozialer) Organisation gesetzt werden.

Das umfangreiche und mit einer außerordentlich großen Fülle von Literatur belegte Werk untersucht das spezifische Problem der Vergesellschaftung unter soziologischen und sozialphilosophischen Aspekten. Wo wertend Stellung genommen wird, erfolgt dies unter den Aspekten der katholischen Sozialmoral.

Die Interpretation nähert sich in ihrer Schauweise, wenn auch nicht deklariert, der Phänomenologie, zuweilen auch dem Universalismus.

Ein Eingehen auf die Gedankenführung des ausgezeichneten Werkes wird durch den Umstand erschwert, daß sich der Autor in einem kaum mehr vertretbaren Umfang (überdies oft noch konstruierter) Fremdwörter und schwieriger Formulierungen bedient, auch dann, wenn es durchaus möglich gewesen wäre, die Dinge einfacher zu sagen. Dadurch kommt es zu einer verbalen Verdeckung (auch durch neue Terminologien; kaum, daß wir mit Mühe die alten klassischen Termini „internalisiert” haben) der ohnedies nicht gerade einfachen Gedankenführung, so daß die beabsichtigte Eingrenzung der gegenwärtigen Ordnungsproblematik nicht in der sicher beabsichtigten Eindeutigkeit sichtbar wird.

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