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Japan vor kritischen Entscheidungen

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Akita-ken, Yokote-shi, 30. Jänner Die bevorstehenden Parlamentswahlen sind von weittragender politischer Bedeutung. Die Frage ist gestellt: Wird das japanische Volk durch seinen Wahlentscheid eine neue reformerische Richtung seiner überlieferten Politik einschlagen oder wird es eine Linksschwenkung zu einem radikalen Sozialismus vollziehen, der Neigungen zum Kommunismus mit sich trägt? Spaltungen, die in den alten Parteien links und rechts aufgetreten sind und in den Wahlen die Gutheißung oder Ablehnung durch das Volk erwarten, lassen es bisher als unsicher erscheinen, wohin die Fahrt geht.

Mit der Spaltung der von Yoshida; diesem Staatsmann von Rang, geführten Liberalen Partei der Sezession des demokratischen um den Ministerpräsidenten Hatoyama gescharten Flügels der alten Regierungspartei ist deren Pfeilerstellung der liberalkonservativen Kräfte angesprengt worden. Aber auch die Anhängerschaft des Sozialismus ist auf zwei Lager verteilt, die sich bisher in fast gleicher Stärke gegenüberstehen: eine, der Labour Party Englands ähnliche Parteigruppe und eine ebenso starke radikale, man möchte glauben, dem Umschnappen zum Kommunismus geneigte. Die feindlichen Brüder trennt eine tiefere Kluft als ihre Programme erwarten ließen.

Nun lärmt von allen Parteiquartieren her die Wahlpropaganda durch ganz Japan. Diesmal sind alle Parteien mit sehr konkreten Reform-vorschlägen wirtschaftlicher und sozialer Art auf den Plan getreten. Die Demokratische Partei mit dem Ministerpräsidenten Hatoyama verficht ein sehr volkstümliches Wirtschaftsprogramm, das eine drastische Senkung der Steuern um 50 Milliarden Yen umschließt, ferner ein Bauvorhaben für 420.000 neue Wohnungen, Anlagen von Staats-Autobahnen, Elektrowerke usw., Vorhaben, die eine Vollbeschäftigung aller Arbeitskräfte versprechen. Nordjapan und Japans nördlichste Insel Hok-kaido sollen dem Verkehr besser erschlossen werden. Ferner verlangt die Regierungspartei die Einsetzung einer überparteilichen Kommission zur Revision gewisser überholter Verfassungsbestimmungen und die endliche Rationalisierung des Reises, des Hauptnährmittels des Volkes. Vielleicht die stärkste Wahlparole in bezug auf propagandistische Wirkung ist das Verlangen der Regierungspartei nach einer Normalisierung der Beziehungen zu Rot-China und Rußland. Eine Wahlparole von erstaunlicher Gerissenheit. Denn jedermann in Japan hofft auf diese Normalisierung, in der die Rückkehr aller Gefangenen und sonstiger in China und Rußland zurückgebliebenen Eingeschlossenen — also vieler Hunderttausende — einbeschlossen wäre; zudem weiß jeder Japaner, daß sein Land durch den Handel mit China wirtschaftlich außerordentlich aufholen würde. Vor dem Krieg hat sich der Mann aus dem Volke nicht allzuviel um Außenpolitik gekümmert, das war eine Angelegenheit, die ihm zu hoch war und die er beruhigt den Regierenden überließ. Nun aber hat sich die Tagespresse auf die Außenpolitik gestürzt und treibt, je nach ihrer politischen Einstellung, zur Anteilnahme, bei der aber dem Volke das eigene freie Urteil fehlt.

Ueber die Wahlchancen der einzelnen Parteien wird viel gestritten. Sehr gute Aussichten werden der rechtsgerichteten Sozialpartei zugesprochen, doch fehlen ihr die populären Führer von Format, die erfahrenen, starken Persönlichkeiten, wie sie die Demokratische und Liberale Partei besitzen.

Ministerpräsident Hatoyama, der 71jährige Präsident der Demokraten, glaubt wenigstens 200 von den *67 Parlamentssitzen zu gewinnen. Mit diesem Anspruch konkurriert die Liberale Partei Yoshidas, die für sich 250 Sitze erhofft. Die beiden sozialistischen Parteien glauben 250 Mandate zu Halbpart unter sich teilen zu können. Die Kommunisten errechnen kühn, daß sie mit mehr als 30 Mann in das Parlament einziehen werden. Vollzöge sich der Zusammenschluß der beiden großen sozialistischen Gruppen, so könnte die nächste Zukunft in Japan dem Sozialismus angesichts der Zerspaltung seiner Gegner gehören. Wahrscheinlich ist es jedoch, daß dem Ministerpräsidenten eine neue Zusammenfassung der nichtsozialistischen Elemente gelingt und ihm sogar eine Zweidrittelmehrheit verschafft. Dann würde das Feld der japanischen Innen- und Außenpolitik jedem Abenteuer entrückt sein.

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