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„Milliarde gegen Milliarde44

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Die Kommentare zur SALT-Kon-ferenz erklären in internationaler Übereinstimmung das Funktionieren dieses Abrüstungsgesprächs mit dem Umstand, daß man bei den Verhandlungen grundsätzlich von der atomaren Parität der beiden Atomsupermächte ausging. Diese sieht man darin begründet, daß jede der beiden Mächte heute befähigt ist, einen Atomanschlag mit einem atomaren Gegenschlag zu beantworten. Diese Rechnung scheint zwar primitiv wie die eines steinzeitlichen Zweikampfes, aber unbestritten. Sie sagt: Führt Atommacht A einen Atomschlag gegen Atommacht B, ist heute Atommacht B in der Lage, nach empfangenem Atomschlag einen atomaren Gegenschlag gegen Atömmacht A zu führen, das heißt, jede der beiden Atomweltmächte kann nach dieser Rechnung einen Schlag austeilen und einen Schlag erhalten, wodurch jede riskiert, nachher ein Trümmerhaufen zu sein. So ist die Parität hergestellt. Diese merkwürdige Rechnung scheini auf dem Denkschema des atomaren Machtbeginns zu beruhen. Die Ausgangslage war, daß nur eine Machi die Atomwaffe besaß. Atommacht A konnte also einen Atomschlag erteilen, ohne einen Gegenschlag befürchten zu müssen. Das war die Situation von Hiroshima und einigt Jahre nachher. Sie war von der Auffassung beherrscht, daß der Atomangreifer risiköloser Sieger, das Opfer des Atomschlages bedingungslo: Unterlegener sein müsse. Mit der Entwicklung der zwextei Atommacht in den fünfziger Jähret standen nunmehr zwei Atommächti einander gegenüber und das atom strategische Problem wandelte sid nun zu der entscheidenden Frage, wer zuerst den Atomschlag führen würde, denn jede Macht hatte nur eine Schlagmöglichkeit. Gegen-schllag war ausgeschlossen. In dieser Atomformel erschien zum erstenmal der Begriff des atomaren Ristkos, denn die Chance des Überlebens hatte nur derjenige, der zuerst und rechtzeitig den einzigen ihm möglichen Atomschlag führte. Hinsichtlich der Möglichkeit, den ersten Schlag zu führen, war jedoch beiden Seiten die gleiche Chance gegeben. Um die Verlockung zum Atomangriff auszuschalten wurde angestrebt, die Atomrüstung zur Gegenschlagfähig-keit auszubauen. Kam eine Macht in die Lage, einem Angreifer einen vollwertigen Gegenschlag zu versetzen, so mußte nach der bisherigen Atomformel das Risiko für den Angreifer zu groß sein, den Angriff zu wagen. Man nannte diesen Zustand das Gleichgewicht des Schreckens.

Ausgehend von der Hiroshima-Lage ist man offenbar der Ansicht, daß ein atomarer Schlagabtausch mit dem zweiten Schlag beendet ist, hat also die eine Atommacht einen Atomerstschlag, die andere einen Gegenschlag erhalten, so sind beide erledigt. Aber die Einführung der „second strike Capacity“ hat doch die völlig neue Möglichkeit geschaffen, nach dem Erhalt eines Atomschlags noch immer zur Führung atomarer Gegenschläge befähigt zu bleiben. Die Rechnung sieht daher in Wirklichkeit so aus, daß die angreifende Atommacht den Erstschlag und den Gegenschlag, also zwei Schläge ausführen kann und nur einen, nämlich den Gegenschlag erhält, während Atommacht B den Erstschlag erhalt, den Gegenschlag durchführt und dann den zweiten Schlag, nämlich den Gegenschlag von A, erhält. Im Grunde ist wie in der Frühzeit der Vorteil beim Angreifer, der Unterschied ist nur, daß er jetzt auch im eigenen Bereich Schäden einkalkulieren muß. Da aber nach dem derzeitigen Schadenskalkül keine Macht zwei Atomschläge überdauern kann, ist der Drittschlag der entscheidende Schlag.

Man kann die Frage stellen, wie sich die Atomformel weiter entwickeln wird. Mit der Abnützungsmethode — vierter Schlag, fünfter Schlag und so weiter — ist kaum zu rechnen, da die Einsätze zu groß sind. Die Erfolgschancen wird man daher kaum an der Zahl der Schläge messen, sondern vermutlich an der „Ergiebigkeit“ des Erst- und des Gegenschlages. Den entsprechenden Maßstab liefert „Megadeath“, die Maßzahl für jeweils eine Million Tote. Der Begriff ist grauenhaft, aber nicht grauenhafter als alles, was mit der A-B-C-Strategie zu tun hat. Ursprünglich kam man auf 120 Millionen Tote pro Schlag, heute sind die Berechnungen infolge der Vorwarnungs-, War-nungs-, Abfang-, Zivilschutz- und sonstigen Verteidigungssysteme und wegen der „sauberen Bombe“ auf 30 Millionen reduziert. Die Mehrkopfrakete — und auch die Weltraumwaffen, an denen man trotz Dementis und internationalen Verbotsverträgen arbeitet — dürften die Todesrate wieder steigern. Da Megadeath eine Kettenreaktion biologischer und sozialer Folgen (Zusammenbruch der Kommunikationssysteme, Hungersnot, Seuchen) auslösen muß, sehen die 250-Millionen-Nationen, soweit bekannt ist, ihr Schicksal im wesentlichen mit dem Erhalt eines Schlages besiegelt. In Peking hat man bekanntlich die These aufgestellt, daß ein Volk von 700 Millionen nach einem Verlust von 300 Millionen noch immer existiert, während ein 250-Millionen-Volk dann eben nicht mehr vorhanden ist. Tritt ein den jetzigen Superatommächten an Bevölkerungszahl weit überlegenes Volk in die atomare Arena, das über die volle atomare Schlag- und Gegenschlagfähigkeit verfügt, so tritt die Megatod-Förmel ihre Herrschaft an, die nach den Gegebenheiten folgendermaßen aussieht: Ein Atomangriffskrieg eines 250-Millionen-Volkes gegen ein 700-Millionen-Volk ist reiner Selbstmord. Das dürfte die Wurzel für die immer wieder auftauchenden Gerüchte über einen Präventivkrieg gegen China sein. Eine Konstellation 250 plus 700 gegen 250 bedeutet Untergang des Angegriffenen, aber auch Verzicht des kleinen Verbünde- ten auf Selbständigkeit, denn er hat nach der Vernichtung des 250-Milli-onen-Gegners keine Chance mehr gegenüber dem eigenen 700-Millio-nen-Verbündeten.

Allerdings könnte sich das Atom-Panorama mit dem Eintritt einer weiteren 500- oder 600-Millionen-Macht (zum Beispiel Indien) in den Atomklub neuerdings ändern. Dann würde wohl der jetzige Zweimächtestand wiederhergestellt, denn es würde sich wohl eine Front 250 plus 600 gegen 250 plus 700 oder, sagen wir, Milliarde gegen Milliarde bilden.

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