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Macht den linken Flügel stark

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Hinter jeder Politik steht u. s. ökonomisches Interesse. Jede politische Gruppe ist daher entweder nur oder auch Interessentenpartei. Was sich nun christliche Politik nennt, kommt an diesem Sachverhalt, welcher der Natur des Menschen entspricht, nicht vorbei. Ebenso ist die Verquickung von Ideen und Interessen das Dilemma des Sozialismus von heute.

Wenn sich eine politische Gruppe als „christlich“ etikettiert, ist es für die Bestimmung ihrer Qualität wesentlich, wie weit sie, neben den wirtschaftlichen Zielen, christliche Wahrheiten vermittels der Politik zu realisieren sucht. Jenes Ausmaß, in dem ihr dies gelingt, ist das Maß ihrer christlichen Bewährung.

In Oesterreich war, nach der teilweisen Ver-großbürgerlichung der Christlichsozialen, christliche Politik, wenn auch nicht durchweg, so doch weithin und allzulange als nur-bürgerliche Politik verstanden worden. Das Wort „christlich“ in der Firma christlicher Politik diente nicht selten der notdürftigen Verdeckung einfacher Interessentenpolitik. Nicht wenige „christliche“ Politiker sahen in der Kirche eine wohlbewährte Versicherungsinstitution, geeignet, die Heiligkeit rechtens erworbenen privaten Eigentums besser und billiger zu schützen als jedes andere Institut.

Nichts wäre aber ungerechter, als das Jahrzehnte währende, härtesten Bedingungen ausgesetzt gewesene Bemühen christlicher Politiker jetzt, nachträglich, abzuwerten. Nicht minder gefährlich aber ist die Kanonisierung der christlichen Politik von gestern, das Uebcr-sehen, daß etwa dann, wenn die Chance gegeben war, Sozialreform durchzuführen, christliche Politiker nicht selten versagt haben und noch versagen.

Nach 1945, noch unter der Schockwirkung der Ereignisse von 1934 bis 1938, hat man in Oesterreich bewußt davon Abstand genommen, eine „christliche“ Partei wiederzuerrichten. Die OeVP wurde, mehr als die SPOe, nach außen hin, eine Wirtschaftspartei. Trotzdem standen in ihren Reihen bewährte Christen, tapfere Männer der Resistance, die ihres Glaubens wegen (und nicht, weil sie im März 1938 ökonomische „Interessen“ vertreten hatten) den bitteren Weg in die Verließe der Befreier antreten mußten. Wir dürfen das sagen: Obwohl Wirtschaftspartei und dies oft zu weitgehend, standen in den Reihen der OeVP von allem Anfang an Tausende der besten der österreichischen Katholiken, um christliche Politik und nur diese zu machen.

Innerhalb der OeVP bildete sich nun, durch das Vorhandensein von Nur-Interessenten-gruppen ausgelöst, neben dem Bauernbund eine christliche Gruppe heraus, der Politik mehr war als Antimarxismus oder Vertretung geheiligter Besitzinteressen: Der Oesterreichische Arbeiter- und Angestelltenbund (OeAAB).

Heute, nach zehn Jahren des Bestehens der Volkspartei, dürfen wir sagen: Wo in Oesterreich beispielgebende SoziaJreformen geschaffen wurden, da waren Männer des OeAAB dahinter: Köck, Weinberger, Kummer, Lugmayer, Altenburger, Reich, Prinke und die vielen draußen in den Ländern.

Wenn wir an die beiden großen Ergebnisse der Sozialreform in Oesterreich denken: an den Soziallohn (als Familienlohn) und an den Bau von Eigentumswohnungen, müssen wir den Männern um den OeAAB bestätigen, daß sie, feind aller Nur-Theorie, alte Sehnsüchte christlicher Sozialreformer in die Wirklichkeit der Gesellschaft übersetzt haben. Endlich nicht allein Programm, Manifeste, Tagungen, sondern Tatsachen: Mehr Einkommen für die Familie, mehr Wohn- und Lebensraum, mehr spürbare Sicherheit. Es ziemt sich, festzustellen, daß wir ohne die Initiative des OeAAB weder einen Familienlastenausgleich noch Eigentumswohnungen besäßen. Unser Hang zur Kritik, seit Jahren zum Rang einer „christlichen“ Tugend erhoben, läßt uns das zuweilen vergessen, verstehen wir es doch nicht selten, in den Institutionen lediglich die Mängel zu sehen, -zu verurteilen, statt zuerst zu urteilen.

Das Nächste wird es wohl sein, daß der OeAAB versuchen muß, die Beziehungen zwischen Familie und Betrieb neu zu ordnen. Es ist nun einmaj so, daß der Betrieb (im weitesten Sinn — also auch die Beamtendienststelle) ein Milieu, eine Summe von Umweltbedingungen ist, von denen der arbeitende Mensch mitgeformt wird. Die Welt des Arbeitsvollzuges muß daher zur Familie, als dem Bereich des ursprünglichen Lebens, in eine besondere und wirksame Verbindung gebracht werden, sei es durch mehr Werkwohnungen oder durch betriebliche Ferienheime, die aber, um der Vermassung zu entgehen, die Familie als ein Ganzes aufzunehmen hätten.

Durch seine fortgesetzten Bemühungen, neue Formen für das unternehmerische Eigentum zu finden und das Konsumgut „Wohnung“ in mittelbare Beziehung zum Menschen zu bringen, wie überhaupt als Folge seiner fortgesetzten Initiativen, die Thesen christlicher Sozialreform im Spannungsfeld der Gesellschaft zu erproben, ist der AAB an den „linken“ Flügel der VP gerückt. Dabei soll „links“ verstanden werden als Versuch, die (ökonomisch bestimmte) Herrschaft des Menschen über den Menschen auf ein sachlich vertretbares Maß zurückzuführen. Weltanschaulich belangreiche Aktionen werden auf diese Weise durch den AAB enge mit der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen bestens verbunden. Christliche Politik wird eben zu einem intellektuellen Planspiel, wenn sie nicht gleichzeitig die Interessen derer wahrnimmt, die am Rande der Gesellschaft verkümmern, der Enterbten, der „kleinen Leute“, aber auch derer, die formal zu den „Besitzenden“ (den Selbständigen) gehören, infolge der Höhe ihres Einkommens aber an die Zäune des Lebens verwiesen sind (kleine Hausherren, Kleingewerbetreibende, Bergbauern).

Daß der AAB bewußt „Flügel“ ist, also innerparteiliche Gruppe, distanziert von anderen Gruppen, wird ihm offensichtlich von der VP nicht übelgenommen, um so mehr, als auch andere Flügel bestehen, so der liberale, der Unternehmerflügel und ein sozialreformatorisch apathischer Flügel, bestehend aus bestimmten Bauernführern des Burgenlandes und Niederösterreichs. Das Vorhandensein von Liberalen in der VP ist übrigens nur der Index für die Verringerung der Zahl der Bekenntnischristen in unserem Land. Wenn 40 Prozent die VP wählen und nur 20 Prozent praktizierende Christen sind, muß man annehmen, daß jeder zweite VP-Wähler in der Partei wohl die Vertretung wirtschaftlicher, nicht aber christlicher Belange sieht.

Wenn die VP Volks partei sein will, muß sie, um elastisch bleiben zu können, die Bildung von Flügeln zulassen. Und sie tut es. Bedarf sie doch, wie jede Großpartei, eines innerparteilichen Interessenausgleiches. Dazu kommt, daß die „bündische“ Gliederung der VP die Konstituierung von Flügeln geradezu statutenmäßig festlegt.

Wenn auch Teil der Partei, ist der AAB stets Bewegung geblieben, organisiertes Bemühen, Probleme, die jenseits der ökonomischen Interessen liegen, durch politische Mittel — durch ihre „Verpolitisierung“ — zu lösen. Das heißt nicht Revolte gegen die Parteiführung, sondern die Grenzen offenhalten, mehr sein als Mechanismus, Fließband für die Verwirklichung von Alltagsaufgaben. Das heißt weiter: Experimentieren, auch wenn man am Anfang die Experimentatoren nicht voll nimmt, Provozieren, um die Gegner auf das freie Feld zu locken, wo sie sich stellen müssen, das heißt: Opfern von Parteiinteressen, wenn die Interessen von Vaterland, Kirche oder (sagen wir es ruhig) der „Klasse“ es erfordern. Nur wenn der AAB es weiterhin versteht, Interessenvertretung und Tatchristentum zu kombinieren (wie dies die zwei anderen Bünde nicht immer vermögen), hat er seine Chance, Außenbordmotor der VP zu sein, die, von der Muskelkraft der Interessenten allein bewegt, sich im Kreis drehen, zumindest aber das politische Rennen nicht machen würde.

Trotz aller positiven Feststellungen ist nicht zu übersehen, daß noch einige Probleme, die unmittelbar den OeAAB angehen, ungelöst geblieben sind.

1. Die Frage der christlichen Gewerkschaften. Wenn man die Arbeit der „Fraktion christlicher Gewerkschafter“ unter die Lupe nimmt, muß man sehen, daß sie kaum mehr ist als ein Mane für die ehemals im OeAAB befindlichen Berufssektionen.

Welche Chance hat heute aber eine starke christliche (als Fraktion konstituierte) Gewerkschaftsbewegung vor sich! Und wie wenig wird diese Chance von den Christen in Oesterreich genützt, wenn sie nicht gar einer widersinnigen Gewerkschaftsfeindlichkeit das Wort reden.

2. Bedürfte die Schulung der Mitglieder des AAB einer Vertiefung, damit das, was an Glauben an die moralische Rechtfertigung christlicher Politik da ist, sachlich unterbaut und zum Bekenntnis auch im Bereich der Arbeitswelt werden kann.

3. Das breitenmäßige Wachstum des AAB ist nicht imponierend: 164.000 Mitglieder. Davon 15 Prozent Privatangestellte, 38 Prozent öffentlich Bedienstete. Aber nur 25 Prozent der Mitglieder sind Arbeiter (nicht mitgerechnet die zirka 40.000 Mitglieder des Land- und Forstarbeiterbundes). Im katholischen hochindustrialisierten Vorarlberg hat der AAB nur 948 Arbeiter als Mitglieder.

4. Die Arbeiter haben auch innerhalb des OeAAB nicht jene Position, die sie angesichts der politischen und sozialen Wandlungen haben müßten, gar nicht davon zu reden, daß der einzige AAB-Vertreter in der Bundesregierung ein Selbständiger ist.

Was die Mandatare des AAB betrifft, zeigt sich, daß es christlichen Arbeitern (mangels wirtschaftlicher Sicherung) derzeit kaum möglich ist, ein Mandat anzunehmen. Die Folge: Von 29 AAB-Nationalratsabgeordneten sind 3 (statt nach dem Verhältnis der Mitgliederzahlen 7) Arbeiter, von 58 Landtagsabgeordneten 4 (!). Nur in drei Landtagen sitzen Arbeiter als VP-Abgeordnete. Wer das hört, begreift das Mißtrauen der Arbeitnehmer gegenüber der VP, das größer ist als ihr Unmut gegenüber ihren verbürgerlichten sozialistischen Führern. In allen neun Landesregierungen sitzt kein einziger christlicher Arbeiter (!). In diesem Zusammenhang soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß sich in allen Landesregierungen zusammen nur neun Angehörige des AAB befinden. Im Burgenland, das immerhin heute von Zehntausenden von Arbeitern bewohnt ist, hat die christliche Arbeitnehmerschaft wohl den Landtagspräsidenten (also einen Repräsentationsposten), aber kein einziges Regierungsmitglied.

Wenn in Oesterreich der Durchbruch der christlichen Politik nach links gewagt werden soll, dann nicht ohne Bedachtnahme auf die Tatsache, daß die dürftige Repräsentation des AAB in den Regierungs- und Verwaltungs-gremien die Annahme verfestigt, daß die VP zuvorderst eine Partei von Bürgern und Bauern ist, was an sich beileibe nicht beklagenswert ist, aber auch keinen Anlaß für die Arbeitnehmerschaft darstellt, in der Volkspartei d i e Vertretung ihrer Interessen zu sehen.

Die Sozialreform wird eine dauernde Aufgabe des Christen, eine in die Wirklichkeit der Welt übersetzte Seelsorge sein. Damit aber ist offensichtlich, daß dem Christen, wenn er gesellschaftliche Neuordnung will, die Last des politischen Bekenntnisses und des politischen Handelns nicht abgenommen werden kann. Den Führern des OeAAB aber muß Dank dafür gesagt werden, daß sie durch zehn für unser Vaterland entscheidende Jahre an der Front gestanden und den Beweis zu liefern versucht haben, daß christliche Wahrheiten mehr sind als Gegenstand von Kanzelreden und wohlab-gewogenen Disputationen, daß es sogar möglich ist, die Thesen der Dekaloge zu gesellschaftlichen Realitäten zu erheben. Für dieses christliche Praktikum sei ihnen heute, in den Tagen des Bestandsjubiläums, Dank gesagt.

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