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Ein Völkermord ?

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Der 72jährige Tschn En-lai, Botchinas Premierminister seit 1949, hat kürzlich in einer Rede vor dem französischen Fernsehen die führende Rolle seines Landes im Kampfe gegen den „Kolonialismus“ unterstrichen. Diese Worte konnten den aufmerksamen Hörer freilich nicht vergessen lassen, daß sich dieses „antikolo-nialistische“ China zu gleicher Zeit eines Kolonialismus schuldig macht, der in seiner gezielten Grausamkeit alles übertrifft, was die Kolonialgegenwart anderenorts zu melden weiß.

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Der 72jährige Tschn En-lai, Botchinas Premierminister seit 1949, hat kürzlich in einer Rede vor dem französischen Fernsehen die führende Rolle seines Landes im Kampfe gegen den „Kolonialismus“ unterstrichen. Diese Worte konnten den aufmerksamen Hörer freilich nicht vergessen lassen, daß sich dieses „antikolo-nialistische“ China zu gleicher Zeit eines Kolonialismus schuldig macht, der in seiner gezielten Grausamkeit alles übertrifft, was die Kolonialgegenwart anderenorts zu melden weiß.

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Ein trauriger Jahrestag liefert die äußere Gelegenheit, daran zu erinnern: am 7. Oktober 1970 sind genau zwei Dezennien vergangen, seit Rotchinas Armee mit der Besetzung und Kolonialisierung Tibets begann. Tibet, das schon im 7. Jahrhundert ein Großreich gewesen und im 13. Jahrhundert zum Priesterstaat mit dem Dalai Lama an der Spitze geworden war, hatte sich 1912 von der damaligen chinesischen „Schutzherrschaft“ wieder befreit. Die Eingliederung Tibets ins rotchinesische Mammutreich erfolgte 1951, unter der Bezeichnung einer „Autonomen Region“. Die chinesische Armee beschlagnahmte beim Einmarsch in Tibet zahllose Häuser, sie belegte ein riesiges Gelände in der Hauptstadt Lhassa, um ein Truppenlager für ihre Besatzung zu schaffen, sie konfiszierte Lebensmittel in solchen Massen, daß der Butterpreis aufs Neunfache, der Getreidepreis aufs Zehnfache stieg. Damals sandten der frühere tibetische Premierminister Sitzub Lokangwa und der Bruder des Dalai Lama, Tundup, einen

Hilferuf an Pandit Nehru nach Indien: „In südlichen und mittleren Gebieten Tibets zerstörten die Chinesen Tausende von Hektar Ackerland zur Errichtung von Militärstraßen, Kasernen und Zeughäusern: sie zwingen die enteigneten tibetischen Bauern, täglich zwölf Stunden zu arbeiten, bei einer Tagesration, die nicht einmal für eine einzige Mahlzeit ausreicht... Die Tibeter leben unter der chinesischen Militärbesetzung in einer wahren Hölle ...“ Heute bat der Arbeitszwang, um das widerspenstige Volk von Tibet zu zermürben, unfaßbare Formen erreicht. Aber auch der Angriff auf die tibetische Volkssubstanz wird an mehreren Fronten vorangetragen. Er heißt: Zerstörung der Familien, Umsiedlung, Sterilisierung. Zunächst haben die Chinesen konsequent die „Familienauseinanderführung“ praktiziert: sie deportierten dazu Tibeter nach China, wobei Väter und Mütter nicht wissen durften, wohin ihre Söhne und Töchter gebracht wurden. In China verlieren diese Tibeter infolge der fremden Umgebung ihr Volkstum durch Assimilation — ihre dort geborenen Kinder lernen die Muttersprache nicht mehr. Junge Tibeterinnen werden „ermuntert“, Chinesen zu heiraten: wenn sie sich weigern, erfolgt — so melden Beobachter — vielfach künstliche Sterilisierung.

Diese Methoden, verbunden mit einer hermetischen Nachrichtensperre, haben erreicht, daß die Welt heute die Zahl der tibetischen Bevölkerung nicht mehr anzugeben vermag: die Schätzungen schwanken zwischen drei und sieben Millionen. Zu gleicher Zeit vollzieht sich seit 1956 eine Masseneinwanderung von Chinesen nach Osttibet, so daß es dort heute etwa 20 Chinesen auf einen geborenen Tibeter geben soll. Überflüssig, zu sagen, daß die ideologischen Grundsätze des Marxismus-Leninismus mit voller Gewalt auf dem Gebiete des Klassenkampfes und der Religionsverfolgung zur Geltung kommen. Das Gelingen der antireligiösen Kampagne der Chinesen wird am besten durch die Tatsache erhellt, daß in den drei größten Klöstern Tibets, Drepung, Sera und Gaden, die früher rund 16.000 Mönche beherbergten, noch gerade 300 anzutreffen sind, die man aus Propagandazwecken dort vegetieren läßt.

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