Wer ist schon "normal"?

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Amstetten: Vom "Verlies" als Metapher für ein "desolates Bergland" und unserem Versuch, Unbegreifliches zu begreifen.

Es musste wohl so kommen: Kaum war die heimische und internationale Medienmaschinerie voll angelaufen, wurde der Inzest- und Missbrauchsfall von Amstetten auch schon mit der Causa Kampusch vermengt. Im Zentrum beider Fälle: das Verlies. Moderne Mediengraphik hat auch diesmal wieder gezeigt, was sie kann - wie schon beim Souterrain des Hauses Priklopil (und in unzähligen anderen Fällen davor; auch anlässlich des Sterbens von Johannes Paul II. erfuhren wir irgendwann, wo genau im Apostolischen Palast sich sein WC befand).

Vor allem aber eignet sich das Verlies hervorragend als Metapher: Jene, die sich nicht zu lange mit den chronikalen Aspekten des Geschehens aufhalten wollen und sich eher als Österreich-Denker verstehen, sehen im "Verlies" gewissermaßen ein ganzes Land auf den Begriff gebracht: dunkel, eng, stickig und irgendwie heimlich-unheimlich. Warum auch soll man als Auslandskorrespondent für die Leser und Seher daheim nicht aus gegebenem Anlass das gewohnte Österreich-Klischee ein bisschen auffrischen?

"Was läuft schief in diesem Land", war daher Anfang dieser Woche eine der am häufigsten gestellten Fragen. Dass "die soziale Kontrolle in dem etwas desolaten Bergland vielleicht geringer" sein könnte, vermutete etwa - ausgerechnet (Stichwort: Dutroux) - die belgische Zeitung Het Nieuwsblad, die allerdings, das sei nicht unterschlagen, auch einen in der Nähe von Amstetten lebenden flämischen Priester mit den Worten zitierte: "Denkt bitte nicht, dass in allen österreichischen Kellern Menschen eingeschlossen sitzen". Wie man überhaupt sagen muss, dass sich etliche der vom ORF befragten Journalisten ausländischer Medien sehr vernünftig und differenziert äußerten (und dass es die ZIB2 ehrt, dass sie am Montag auch einen Beitrag über Belgien nach Marc Dutroux brachte).

Aber das "desolate Bergland" ist dennoch in vielen Köpfen drinnen, hierzulande wie auch im großen Rest der Welt, der offenbar hauptsächlich aus "heilen Flachländern" besteht. Deswegen sei versuchsweise geantwortet: Es läuft in Österreich schief, was in einer saturierten, etwas müde gewordenen, gleichzeitig durch die Verwerfungen einer sich ständig und rasant beschleunigenden Konsum-, Event- und Medienwelt latent überforderten und daher verunsicherten europäischen Wohlstandsgesellschaft eben schief laufen muss: Jeder ist vollauf mit sich selbst beschäftigt, hat buchstäblich alle Hände voll zu tun - starke zivilgesellschaftliche Strukturen, die (so heißt es zumindest) Fälle wie den von Amstetten verhindern oder früher aufdecken könnten, entstehen unter diesen Bedingungen nicht.

Dazu kommt aber noch etwas anderes: Das anlässlich solcher Tragödien gerne und aus verstehbaren Gründen eingemahnte "Einmischen" und "Hinschauen" hat auch eine Kehrseite - die soziale Kontrolle. Auch daran sind schon Menschen zerbrochen. Anders gesagt: Das Prinzip der Nichteinmischung und des Nichthinschauens ist bis zu einem gewissen Grad ein Kennzeichen offener Gesellschaften - denen zur Zeit freilich an anderer Front, im Zeichen der Terror- und Kriminalitätsbekämpfung, ohnedies stark zugesetzt wird.

Natürlich käme es hier, wie überall, auf das rechte Maß von Nähe und Distanz an. Aber wer vermöchte die Grenze zwischen Schnüffelei und Gleichgültigkeit abstrakt zu ziehen? Auffällig oder "komisch" mag einem bald einmal etwas in der Nachbarschaft vorkommen - aber möglicherweise wirkt man selbst so auf andere: Wer ist schon "normal"?

Erst Extremfälle wie jener des Josef F. lassen eine eindeutige Beantwortung dieser Frage zu: Der sicher nicht. Und im nachhinein versuchen wir zu verstehen, wie es kommen konnte, wie es kam, wie jemand zu dem werden konnte, was er wurde: von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, vom unmittelbaren sozialen Umfeld, von der individuellen psychosozialen Biographie des (mutmaßlichen) Täters her. Es ist legitim und menschlich, hier nicht locker zu lassen, das Unbegreifliche auf Begreifbares herunterbrechen zu wollen. Aber es gelingt nur ansatzweise - und wir spüren dabei, dass wir immer auch in den eigenen Abgrund blicken.

rudolf.mitloehner@furche.at

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