6566626-1949_52_07.jpg
Digital In Arbeit

Kirche im Kommen

Werbung
Werbung
Werbung

Zweifellos ist der missionarische Wille innerhalb des österreichischen Katholizismus 1949 stärker und bewußter geworden. Am Beginn dieses Jahres stand die große Wiener Seelsorgertagung mit dem Thema „Die Kirche tritt in die Welt“, das Ende 1949 seine Fortsetzung findet in dem Tagungsthema „Katholische Aktion und Seelsorge“. In der Fastenzeit wurde anläßlich der Volksmission für ganz Innsbruck erstmalig versucht, die Katholische Bewegung mit ihren Kräften und Erfahrungen umfassend zur Heimholung der Ferngewordenen einzusetzen. Der Wiener Katholikentag, das Gebhards-Fest in Bregenz, die eindrucksvollen Jugendkundgebungen in Linz, Krems usw. bezeugten, zuerst etwas zögernd, aber dann immer entschlossener, einen Öffentlichkeitswillen, der rundherum aufhorchen ließ. Vor Schluß des Kirchenjahres gab es dann noch einen groß angelegten Versuch, das Kirchenvolk apostolisch zu wecken und Entfremdete wieder zu erreichen, mit den Veranstaltungen des „Kreuzzuges der Liebe" von P. Lombardi. Das Jubiläum der führenden Pastoralzeitschrift Österreichs, des „Seelsorgers“, der vor 25 Jahren mit dem Ruf „Custos, quid de nocte?“ herauskam und groß wurde, wird die missionarische Diskussion gewiß weiterführen ins Heilige Jahr.

Aus diesen Bemühungen spricht zunächst wohl auch das Gefühl, Versäumtes nachholen zu wollen. Es geht zwar zu Weit, mit meinem Wort von den „verpaßten Gelegenheiten“ im Salzburger „Klerus-' blatt“ (82/17) den Alarmruf einer „verlorenen Schlacht“ (ebenda (82/22) zu kombinieren. Aber es ist zweifellos höchste Zeit, jene Statik zu überwinden, die weithin im Kulturkampf steckengeblieben zu sein scheint; man ist bei uns die Bedrängnis jener Jahre im Unterbewußtsein vielfach noch nicht losgeworden, lebt teilweise in der doch lähmenden Angst vor neuerlichen Bedrückungen, hat sich jedenfalls weithin auf das Warten und die Richtlinien von draußen und droben eingestellt und sich selber damit enge Grenzen der schöpferischen, beziehungsweise apostolischen Entfaltung gezogen. Jedoch scheint nun der rechte Augenblick gekommen, von der ersten Phase der Nachkriegszeit, dem Schock des Zusammenbruchs und der Behebung seiner unmittelbaren Schäden, überzuleiten zur zweiten Phase des eigentlichen Wiederaufbaus. Das gilt wahrhaftig auch für die Kirche und Seelsorge. Draußen in der Weltmission sind so viele Fronten in Bewegung geraten; die meist vorherrschend gewesene Kleinarbeit ist an entscheidenden Punkten einer atemraubenden Entwicklung gewichen, auch zu unerhörten Möglichkeiten. In Europa sind die Katholiken in vielen Ländern aus ihren Defensivstellungen herausgezwungen und an die Verantwortung gestellt worden. Als in Österreich „die letzte katholische Großmacht“ 1918 mit dem Habsburgerregime zusammenbrach, geriet der Katholizismus bei uns naturgemäß zuerst in Verteidigungsstellung; ein Angriff nach dem andern, eine Abfallspropaganda nach der andern, eine Ausplünderung nach der andern rollten über uns hinweg. Nun wird es Zeit, von der Bewahrung und Bewährung wieder zur Missionierung und Heimholung überzugehen.

Ich wiederhole: in den Bundesländern ist eine Generation, in Wien und in den Industriegegenden bereits die zweite Generation in die Kirchenferne eingegangen. Bei den Jahrgängen der 15- bis 30jährigen und der 30- bis 45jährigen klaffen schwere religiöse Lücken. Gelingt es nicht, sie einigermaßen zu schließen, die nachrückende Kinderwelt trotz des Vakuums bei den Älteren krisenfest an das Christenvolk heranzuführen, noch in dieser Generation die Kirche dem Gesamtvolk eindrucksvoll als übernatürliche Heilsanstalt zum Bewußtsein zu bringen, so wird aus dem derzeitigen „Nichtpraktizie- ren“ von" zwei Drittel oder drei Viertel oder auch der Hälfte, die aber immerhin vielfach noch in christlichen Erinnerungen leben, ein eigentliches Heidentum. Dann wäre die Paganisierung Österreichs in einem Stadium, das die Wiedergewinnung der Apostaten und die Festigung der Laugewordenen unendlich erschweren müßte, wie es das Beispiel so mancher Departements in Frankreich beweist. Noch dieser unserer Generation ist eine missionarische Aufgabe gestellt, deren Nichterfüllung unendlich tragisch wäre.

Natürlich darf nicht übersehen werden, daß geistesgeschichtliche Entwicklungen nicht „gemacht“ werden können. Sie entfalten sich elementar, großräumig, von Gott geschenkt und gelenkt, vielfältig verknüpft mit den übrigen Vorgängen und Strömungen in der Volksseele. Nur zu leicht kann es dabei zu Mißdeutungen und Fehlleitungen kommen. Heute, wo sich das Leben wieder etwas normalisiert hat und eine Woge des Gesundungswillens durch alle geht, beginnt überall ein neues Hoffen, ganze Wanderungen von Leidenden setzen sich in Bewegung, Flüsterpropaganda und Sensationspresse bilden Mittelpunkte übersteigerten Vertrauens, und der Ruf nach dem Wunder hängt in der Luft. Um so wichtiger ist es, die Annahme übernatürlicher Erscheinungen gerade jetzt besonders sorgfältig von Massenpsychosen zu distanzieren. Man kann nicht profitieren wollen von den überall auftretenden Versuchen erregter Kinder oder auch Erwachsener, welche nach'einem stets gleichen Schema die öffentliche Aufmerksamkeit zu wecken suchen. Morgen, wenn die Menschen nach schweren Krisen und Enttäuschungen von all den Hoffnungen ihres irrigen Glaubens und Unglaubens zurückströmen, werden sie gerade dem Christentum dankbar sein für jeden Fußbreit echten Glaubensbereiches, der intakt blieb, um sich darauf wieder zurechtzufinden und wahrhaft geborgen zu sein.

Einer der Hauptgründe dafür, daß sich der Öffentlichkeitswille des Katholizismus in Österreich seit 1945 nur langsam entwickeln und mühsam durchsetzen kann, liegt zweifellos in der beklemmenden und niederdrückenden Massenpsychose dieser Nachkriegszeit. Deren eine Wurzel sehe ich in der Schuld gegenüber dem 5. Gebot; nach dem Krieg mit seinem kollektiven Morden und der gruppenweisen Diffamierung von „Lebensunwerten“ lebt die Sünde gegen das Leben und gegen den ’ Menschen weiter, der Haß wurde durch Staatsgesetze sanktioniert, die Menschenjagden gingen weiter, das Menschenleben bleibt entwertet, die Ehre und Würde der Persönlichkeit sinkt ab. Der moralische Zusammenbruch ist die erste Antwort darauf. Es folgt einerseits die paranoide Narkose, die bewußte Selbstentwertung, man wirft sich weg und gibt alle Werte und Maßstäbe preis. Dabei wissen wir aus der Geschichte, wie sehr die Würdelosigkeit gerade Grenzvölkern zum Verderben werden kann; es ist für uns eine eigentliche Lebensfrage, in objektiver Ordnung zu stehen. Die andere Seite der Massenpsychose ergibt natürlich die Angst, zuerst die Angst um den Menschen, dann vor den Menschen und schließlich die gegenstandslose, verabsolutierte Angst ins Leere und Dumpfe hinein. Was sich dabei auf philosophischer Ebene zu Systemversuchen verhärtet, geistert als dunkle Untergangsstimmung durch die untern Volksschichten. Wie sollen da mis-

sionarische Sendung und apostolische Wirkung ausreifen? Der Bestand der kollektiven Pathologie und Perversität scheint bereits zu mächtig geworden zu sein. Verbrecher werden als Helden gefeiert, die verkrampfte Triebhaftigkeit rückt bei den therapeutischen Versuchen und philosophischen Deutungen erneut in Schlüsselstellungen ein, ein längst übeiholt geglaubter Zynismus greift wieder um sich.

Aber gerade diese Überspitzung mit ihrem raschen Selbstverbrauch und Leerlauf rückt ein neuerliches „Erwachen der Kirche in den Seelen“ — wie es nach dem ersten Weltkrieg erlebt wurde — auch in unsre greifbare Nähe. Je intensiver eine Massenpsychose sich austobt, desto eher reift sie zur Ablöse. Weite Bereiche der Menschheit stehen in unsern Jahren unter schwerem seelischem Druck, sind kollektiv versklavt, sozial geknechtet; wenn morgen dieser N

and zerbricht, werden die Getretenen von heute es der Kirche danken, daß sie unbeirrbar die Menschenliebe verkündete, die Ehre und Würde der Persönlichkeit, den Adel seiner Geistigkeit und sein ewiges Schicksal. Eher geht sie unters Kreuz der Verfolgung, als daran Verrat zu üben. Es liegt aber auch eine einmalige Verantwortung auf der Seelsorge und der Laienbewegung dieser Jahre, sich diesen Kommenden zu stellen, ihnen in gegenseitiger Ansprechbarkeit zu begegnen und sie heimzuholen. Wenn wir an das Beispiel von Kanonikus Cardijn oder P. Lombardi denken, möchte man gerade auch der außerordentlichen Seelsorge wieder einmal besondere Bedeutung beimessen. Die bevorstehende Wiener Seelsorgertagung (27. bis 30. Dezember) und Ordenssuperiorenkonferenz werden jedenfalls bewußt dem missionarischen Auftrieb des österreichischen Katholizismus dienen müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung