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Hinterrücks ohne Parlament

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Zweieinhalb Monate nach seiner Einsetzung durch das italienische Parlament mußte das erste Kabinett Colombo eine schwere Niederlage einstecken. Das am 27. August erlassene „Große Dekret“ zur Stimulierung der wirtschaftlichen Produktivität fand nicht die Zustimmnug des Parlaments innerhalb der von der Verfassung vorgeschriebenen Frist von 60 Tagen.

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Zweieinhalb Monate nach seiner Einsetzung durch das italienische Parlament mußte das erste Kabinett Colombo eine schwere Niederlage einstecken. Das am 27. August erlassene „Große Dekret“ zur Stimulierung der wirtschaftlichen Produktivität fand nicht die Zustimmnug des Parlaments innerhalb der von der Verfassung vorgeschriebenen Frist von 60 Tagen.

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Dem Obstruktionismus linksdissi-denter Abgeordneter — insgesamt nur 28 Mann — ist es gelungen, die 363 Vertreter der Parteien links von der Mitte zum Rückzug ihres Antrages zu nötigen. Um zu verhüten, daß all die dringend erforderlichen Erträge aus den Fiskalmaßnahmen des 27. August plötzlich dahinfallen, mußte die Regierung ein neues „Großes Dekret“, genannt,, Decretone bis“ erlassen, das sich zwar nicht wesentlich von der ersten Ausgabe unterscheidet, aber Colomibos Maßnahmen eine neue Galgenfrist von 20 Tagen einräumt. Bis spätestens am Stephanstag, dem 26. Dezember, sollte das neue Dekret die Zustimmung beider Häuser erhalten, ansonsten es ebenfalls verfiele.

Nicht nur von Seiten der Opposition, sondern auch der vier Regierungsparteien links von der Mitte, stieß das Vorgehen des ersten Kabinetts Colombo auf heftige Kritik. Der ehemalige Minister Scalfaro (Christlichdemokrat) bezeichnete den Vorfall eines „Regierens mit Dekreten an Stelle von Parlamentsbeschlüssen“ als einmalig. Republikanerführer La Malfa sprach von einer „suspekten Machenschaft hinter den Kulissen statt vor aller Öffentlichkeit im Parlament.“ Die Sozialdemokraten beschuldigen ihre Exverbündeten, die Nenni-Sozialisten, einmal mehr eines gefährlichen Doppelspiels. Daß sich die Kommunisten bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit neutral verhielten und damit den Weg für das „Decretone bis“ ebneten, scheint die offene Gegenleistung für ein Zugeständnis zu sein, das die Linkssozialisten, vielleicht sogar die Christlichdemokraten, möglicherweise aber auch alle beide, noch bezahlen müssen: Wird es diese oder eine andere Strukturreform, die Verstaatlichung eines Industriekomplexes ä la Montedison oder gar die endgültige Annahme des Ehescheidungsgesetzes sein? Die rettende Haltung der Kommunisten in der Frage der Verfassungsmäßigkeit des „Decretone bis“ fand jedenfalls zahlreiche kritische Kommentare. Man sah in ihm wiederum einen Beweis für den seit einem Jahr hinter den Kulissen sich abspielenden geheimen Vorgang der unbeschränkten Linksöffnung: danach besteht zwar eine von den Kommunisten unabhängige Regierung links von der Mitte, doch nach innen lebt der Centro Sinistra von der Unterstützung der KPI, gegen deren Willen der Kurs links von der Mitte sich nicht mehr zur Geltung bringen kann.

Die nächsten zwei Monate werden zeigen, wie weit die in den letzten Tagen und Wochen geäußerten Bedenken richtig oder einmal mehr aus der Luft gegriffen sind. Werden sich zum Häuflein der 28 Filibuster der linksdissidenten Gruppe um die kommunistische Zeitschrift „II Manifeste“ und der sozialproletarischen Partei, die sich mehr und mehr als Sprecherin oder wenigstens als Werkzeug der „Cinesi“, also der Mao-Anhänger, ausweist, noch die ganze KPI und die Neafaschisten, vielleicht sogar Liberale und einige Linkssozialisten, gesellen und damit Colombo endgültig zu Fall bringen, kaum daß er als bester Wirtschaftsfachmann seinen Dienst an der Heimat leisten konnte? Theoretisch könnte Colombo am Stephanstag mit einem dritten Dekret vors Parlament treten, doch wäre ein solches Vorgehen nicht nur einmalig, sondern derart eigenmächtig, das heißt: Ausdruck einer solchen parlamentarischen Ohnmacht, daß man sich fragen müßte, ob Italien noch als eine parlamentarische demokratische Nation anzusprechen und nicht eher hinterrücks zu einem geheimen Vollmachtenregime geworden sei.

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