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Erdrutsch zur Opposition hin

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Die Wahl vom 17. November 1963 brachte einen überwältigenden Sieg der „Gerechtigkeitspartei“, die 46 Prozent aller abgegebenen Stimmen gegenüber nur 35 Prozent bei den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Jahre 1961 für sich gewinnen konnte. Die „Republikanische Volkspartei“ hingegen konnte mit den errungenen 37 Prozent ihr Stimmenpotential von 1961 gerade halten, während die Anteile der „Partei der Neuen Türkei“ und der „Nationalen Bauernpartei“ von je 14 Prozent im Jahre 1961 auf sieben beziehungsweise drei Prozent schrumpften. Auf Grund dieses Resultates wird nunmehr die „Gerechtigkeitspartei“ in 42 Provinzen, die „Volkspartei“ in 23 und die „Partei der Neuen Türkei“ in einer Provinz von insgesamt 67 den Vorsitz im Provinzialrat führen und damit die Verwaltung der Provinz sowie den Bürgermeistersessel in der Provinzhauptstadt in Händen haben. In einem einzigen Vilayet war eine parteifreie Liste siegreich. Der „Erdrutsch“ zugunsten der Oppositionspartei gewinnt an Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, daß sie sich gerade in den wirtschaftlich wichtigsten und dichtest besiedelten Teilen, im Norden, Süden und Westen des Landes (inklusive Istanbul) behauptete, während die „Republikanische Volkspartei“ in den unterentwickelten Provinzen Zentral- und Ostanatoliens erfolgreich war. In der Hauptstadt Ankara allerdings behielten die Volksrepublikaner die Oberhand.

Der Wahlausgang beweist, daß keine der kleinen Parteien imstande ist, eine wirksame dritte Kraft aufzubauen und daß der Zug zum Zweiparteiensystem vorherrscht. Auch die kürzlich erfolgte Grün dung der „Türkischen Arbeiterpartei“ dürfte — zumindest vorläufig — kaum daran etwas ändern, obwohl die Aspekte für eine zugkräftige Linkspartei nicht so ungünstig sind, wie sie von offizieller Seite gerne hingestellt werden. Hatte man der Arbeiterpartei vor den Wahlen die Chance eingeräumt, ungefähr ein Prozent der Stimmen an sich zu ziehen, so war das tatsächliche Resultat von 0,38 Prozent ziemlich enttäuschend. Es wäre jedoch verfrüht, ein definitives Urteil über die Zukunft dieser Partei abgeben zu wollen. Einige der in letzter Zeit überaus rührigen und an Bedeutung zunehmenden Gewerkschaften stehen der Gründung einer „Arbeiterpartei“ wohlwollend gegenüber.

Die Beratungen über die Umbildung der Regierung als Folge des Wahlergebnisses sind noch nicht abgeschlossen. Es steht jedoch bereits fest, daß die „Partei der Neuen Türkei“ und die „Nationale Bauernpartei“ ihre Ankündigungen wahrmachen und nicht mehr an der Koalition teilnehmen werden. Damit ist die „Volkspartei“ isoliert und sieht sich nun, nach dem Schock der Koalition mit den kleinen Parteien, auf der Suche nach einer tragfähigen Regierungsbasis dem Trauma eines Angebotes zur Zusammenarbeit an die „Gerechtigkeitspartei“ ausgesetzt.

Die in der Türkei nun ausgebrochene Regierungskrise war allgemein erwartet worden. Es wäre ein Wunder, meinen einige Zeitungen, wenn das jetzige Kabinett nochein- mal gerettet werden könnte, denn die jetzige Koalition entspreche nicht mehr dem Volkswillen.

Ministerpräsident Inönü steht einer Koalition seiner Partei mit der „Gerechtigkeitspartei“ ablehnend gegenüber und wird nichts unversucht lassen, einen Ausweg aus dem gegenwärtigen Regierungsdilemma zu finden. Er weist nicht zu Unrecht darauf hin, daß Kommunalwahlen, bei denen die Wahlbeteiligung sogar nur 50 Prozent betrug, mit allgemeinen Wahlen nicht gleizusetzen sind, und läßt sich weder von seinen eigenen Parteigängern noch von den dissidenten Koalitionspartnern zu einer hastigen Entscheidung drängen. Ismet-

Pascha, wie Inönü vom Volk noch immer genannt wird, weiß genau, daß er nötigenfalls mit einem wichtigen politischen Ordnungsfaktor in der Türkei rechnen kann: mit der Armee! Und die Armee als Trägerin der Revolution vom 27. Mai 1960 macht kein Hehl daraus, daß sie die Menderes-Nachfolge-Partei der „Gerechtigkeit“ nicht an der Regierung wissen will.

Eine kurze aber bezeichnende wahre Begebenheit charakterisiert das derzeitige innenpolitische Klima: Eines Tages, nach Bekanntwerden des Wahlresultates, macht Inönü in Begleitung des Stadtkommandanten von Ankara einen Morgenspaziergang. Plötzlich blickt der Regie rungschef zum Himmel und sagt: „Was für eine herrliche Luft; wer macht sie wohl so klar?“ Darauf der General: „Das machen unsere Luftstreitkräfte, Pascha; sie passen auf, daß die Luft in unserem Lande nicht verpestet wird!“

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