6693717-1962_49_06.jpg
Digital In Arbeit

Nicht alle auf den Balkon!

Werbung
Werbung
Werbung

Als sich am Abend des zweiten Wahlganges in Bastia die Menge vor dem Domizil des Kandidaten Zucca-relli einfand, um dem frisch erkorenen Deputierten des Wahlkreises eine Ovation darzubringen, brach der Balkon des Gebäudes unter der Last der triumphierenden Wahlsieger krachend zusammen; eine bildhafte Warnung für all jene, die in diesen Legislativwahlen eine radikale Absage an die Traditionen der französischen Politik sehen und sich im Glauben wiegen, die gaullistische Reform könne der demokratischen Fundamente der Vierten Republik ungestraft entraten. Wer die Stabilität der Fünften Republik bereits als gesichert betrachtet, hat in Wahrheit nichts begriffen. „Nicht alle auf den Balkon“, möchte man deshalb den vorschnell triumphierenden Siegern der französischen Parlamentswahlen zurufen.

Ein heftiger Windstoß wirbelte durch das Palais Bourbon, dem nur 240 von 465 Deputierten widerstehen konnten. Die extreme Rechte ist zerstoben. Die von Finanzminister Giscard d'Estaing geführte Gruppe der unabhängigen Republikaner und ein etwas hilflos nach Fusionspartnern Umschau haltendes unabhängiges Zentrum bilden die Trümmer der noch vor kurzem starken unabhängigen Rechtspartei. Auch die Volksrepublikaner sind für ihre Opposition gegen den General schwer bestraft worden. Ihre Stimmenverluste begünstigten fast ausnahmslos die Gaullistische Union, die mit 233 Abgeordneten die stärkste Fraktion stellt, die jemals einer republikanischen Nationalversammlung angehört hat. Zusammen mit den Republikanischen Unabhängigen und den Sympathien im Lager der Volksrepublikaner sichern sich die Gaullisten damit eine bequeme absolute Mehrheit. „Jetzt werden wir für eine Weile Ruhe haben“, konstatierte Staatspräsident de Gaulle.

Dies ist für französische Verhältnisse eine völlig ungewohnte Situation. Zum erstenmal seit der Liberation hat sich die Masse bürgerlich-konservativer Wähler, die bisher zwischen MRP, RPF, Poujade und den Unabhängigen herumirrte, in einer politischen Bewegung gesammelt; um präzise zu sein: um eine politische Persönlichkeit gesammelt. Denn das ist die eine Erfahrung aus diesen Legislativwahlen: In Frankreich werden nicht mehr Programme, sondern es wird eine Persönlichkeit gewählt. Ferner hat sich gezeigt, daß die Veränderung der Sozialstruktur eine Veränderung der Wählerstruktur erzwungen hat, die das bisher gültige Klassenschema außer Funktion setzt. Die Bindung der WähIer an bestimmte Parteien ist „aufgeweicht“ und damit das gesamte politische System flexibler geworden. Im Zuge der faktischen Evolution zum Präsidialsystem sind dies alles Trümpfe in der Hand des populären Führeridols.

Gleichzeitig markiert diese Legislativwahl das Ende eines Läuterungsprozesses in der Gaullistischen Union. Der faschistische Zweig, der schon durch das Ausscheiden von Soustelle stark gestutzt worden ist, darf als endgültig eliminiert betrachtet werden. Das Verschwinden der Unterschiede zwischen radikalen und konservativen Impulsen Verschafft nun der UNR die Chance, die große Rechtspartei Frankreichs nach angelsächsischem Vorbild zu werden. Aber dazu müßte sie sich eine Struktur geben, die diesen losen Clan von Jasagern in eine eigentliche politische Organisation umwandelt, deren Existenz nicht bloß vom Leben eines einzelnen Mannes abhängig ist. Hier lockt eine große Aufgabe, für die sich vielleicht der frühere Premierminister Michel Debre, der übrigens zu den illustren Verlierern dieser Wahl gehört, am besten eignen würde.

Die Linke hat den Sturm besser Oberstanden; dies vor allem dank der verblüffenden Disziplin der kommunistischen Wähler, die durch die Taktik gegenseitiger Wahlhilfe einen noch deutlicheren Sieg der Gaullisten zu verhindern wußten und beispielsweise dem sozialistischen Führer Guy Mollct zum Erfolg verhalfen. Mit einem ähnlichen Stimmenverlust im ersten Wahlgang gewann die sozialistische Partei auf diesem Weg 24 Sitze, während die Volksrepublikaner 20 verloren. Unter dem herrschenden Wahlsystem dürfte sich die Zusammenarbeit der Linksparteien mit den Kommunisten für die Stichwahlen zusehends „einbürgern“. Eine nüchterne Einschätzung der kommunistischen Gefahr auf Seiten der Wähler scheint die hierfür vorauszusetzende Disziplin und Beweglichkeit der Stimmbürger zu gewährleisten. Bei dieser rein wahltaktischen Operation kann jedoch keineswegs von einer Wiedergeburt der Volksfront gesprochen werden. Die politischen Gegensätze zwischen den Kommunisten und den sozialistischen Parteien bleiben in vollem Umfang, ohne den Versuch eines Brückenschlages, erhalten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung