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Aus mitleidendem Herzen

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Kaum beachtet von den großen Bühnen Österreichs und übersehen von den Schauspielhäusern Deutschlands ist am 24. Februar 1967 der 100. Geburtstag des Tiroler Dichters Karl Schönherr vorübergegangen, der an seinem 50. Geburtstag 1917 zu den prominentesten Dramatikern des deutschen Theaters gezählt wurde. Zu Unrecht trübt der Blut- und Bodenmythos des Dritten Reiches den Blick auf das Zeitlose seiner Gestalt; Werke mit suspekten Titeln, wie „Erde“, „Glaube und Heimat“ oder „Volk in Not“, sind jedoch nicht nach 1933 entstanden, sondern 1908, 1910 und 1916. Und keines seiner mehr als 20 Bühnenstücke war für die Volkstheatergruppe der Exlleute in Innsbruck geschrieben, sondern für die großen Bühnen in Wien, Düsseldorf, Köln und Berlin.

Am 24. Februar 1867 in Axams bei Innsbruck geboren, wuchs Schönherr dann in Südtirol auf, in jener Landschaft, die in seinem Werk immer wiederkehren wird. Nach Knabenjahren im Vintschgau war er Gymnasiast in Brixen, Hall und Bozen. Unter harten Entbehrungen studierte er in Innsbruck, 1896 promovierte er in Wien zum Doktor der Medizin. Erst auf Umwegen fand Schönherr zu seiner wahren Berufung: um des Nebenverdienstes willen schrieb er Prosaskizzen und kleine Gedichte. Ihre hintergründige Komik, ihre kauzigen Gestalten („Allerhand Kreuzköpf“) wirken wie ergiebiger Rohstoff für sein späteres dramatisches Schaffen.

Als Schönherr 1897 zum erstenmal mit einer Uraufführung vor das Publikum der Kaiserstadt trat, da wußte man nichts von ihm, als daß er Tiroler sei und in St. Pölten gerade seine Spitalspraxis absolvierte. Zwischen Opern und Operetten brachte das Theater an der Wien dien „Judas von Tirol“, jenes Stück, das in seiner reifen Fassung 1927 am Kölner Schauspielhaus mit Erfolg aufgeführt und weit über den deutschen Raum hinaus berühmt wurde. Schönherr nimmt hier — ebenso wie das Frühwerk des ihm befreundeten Arthur Schnitzler — ein Thema der europäischen Literatur, das durch Pirandello nur noch verdeutlicht wurde, um Jahrzehnte vorweg. Die erste Aufführung trug Sympathie ein; die Literatur spricht — anders als <He zeitgenössische Kritik — irrtümlich von einem Durchfall. Nach der ersten Uraufführung am Burgtheater 1902, „Sonnwendtag“, trat der ehemalige Direktor der Burg, Max Burckhard, für den Tiroler ebenso vehement ein wie früher für Schnitzler oder Hauptmann. Und so zurückhaltend Burgtheaterdirektor Dr. Paul Schienther sonst der österreichischen Literatur gegenüberstand, in Schönherr förderte er die große heimische Begabung.

Nicht alle der etwa 20 Dramen Schönherrs sind von Wert und Gewicht, doch europäischen Ruhm bringt dem Dichter die Düsseldorfer Uraufführung der „Erde“. Wenig später folgt die Inszenierung am Wiener Burgtheater mit Josef Kainz als alter Grutz. Die stummen Symbolszenen, in denen der Bauer, auf dessen Tod alle lauern, seinen eigenen Sarg in Stücke schlägt, können mit Inszenierungen Stanislawskijs verglichen werden: So wie der russische Regisseur hat der expressionistische Dichter aus Tirol das Geheimnis und die dramatische Wirkkraft des Schweigens entdeckt. Im „Weibsteufel“, der 1915 in Berlin unter Max Reinhardt und am Burgtheater in Wien zu gleicher Zeit seine Uraufführung erlebte, entsteht aus dem Gegeneinander von nur drei Personen ein glühendes Stück, das — wie die moderne Filmfassung zeigt — auch heute von seiner Dramatik noch nichts eingebüßt hat.

Die Not des Akademikerstandes in den Hungerjahren der Zwischenkriegszeit trieb den distanzierten Betrachter in die Arena: Jahre nachdem Schönherr seine ärztliche Praxis aufgegeben hatte, schrieb er seine Ärztedramen. „Der Spurius“ ist eine erbarmungslose Kritik an Wiens vornehmsten Ärztekreisen, an Protektion und Kurpfuscherei. „Hippokrates mit der Dornenkrone“, schrieb der Kritiker Alfred Polgar über das bittere „Herr Doktor, haben sie zu essen?“. Vielleicht könnte „Der Spurius“, eine der schärfsten Ärztesatiren der Literatur, am ehesten eine Schönherr-Renaissance einleiten, da die Bühnen heute an seinen Dialektstücken scheitern.

Schönherr blieb auch als Dichter Arzt. Sein Stil ist naturalistischer Expressionismus, seine Probleme sind aus grenzenlosem Mitleid mit der Kreatur erwachsen. Erhard Buschbeck, Dramaturg des Wiener Burgtheaters, nannte den Dichter und Arzt Karl Schönherr einen „gefallenen Engel aus den Tiroler Bergen, der aus seinem mitleidenden Herzen zum Widersacher“ wurde; freilich zu einem Widersacher, der sich nicht stolz erhebt, sondern der — wie der kaiserliche Reiter und Verfolger in „Glaube und Heimat“ — dem Verfolgten schließlich nur wortlos die Hand reichen und sein Schwert stumm und fassungslos zerbrechen kann.

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