Wir teilen unser Ungleichgewicht“, so lautet der Titel des neuen Gedichtbandes von Kirstin Schwab. Ein Versuch, in 82 Gedichten mit poetischen Mitteln auszuloten, wie menschliche Existenz ganz grundsätzlich, in einer Art Augenblicklichkeitsverdichtung in fünf Kapiteln begreifbar zu machen ist. Und dass dies nur multiperspektivisch funktioniert, und zwar auch bezogen auf die eigene Identitätskonstruktion, wird im Gedicht mit dem Titel „damaged good“ hörbar, da heißt es: „…/vielleicht gibt es keine/Reparatur der Bruchstellen/nur Winkel/der Betrachtung/ heilende Perspektiven/dass du mich/siehst/drehst/ suchst/ fragst//setzt mich zusammen“. Die Gedichte sind beinahe alle ungereimt, ohne erkennbares Metrum, dadurch vielleicht aber unmittelbarer und stärker am Augenblick orientiert als würden sie sich einer strengen Form hingeben. Zentrales Motiv ist dabei das Überwinden von Dichotomien und dualem Denken. Was heißt es gleichzeitig getrennt, verbunden, Teil von etwas, ganz für sich, vergangen, gegenwärtig und zukünftig zu sein?
All diese Unvereinbarkeiten werden versucht in Schwebe zu halten. Dieses „Findespiel“, diese sehnende Erkenntnissucht scheint Motor und Antriebskraft für die poetische Arbeit zu sein. Jedes Gedicht, jede Verszeile, jedes Wort, jeder Buchstabe vielleicht – sind gleichzeitig „Linien zum Trennen und Verbinden“. „wie beides?“, so der Titel eines Gedichtes, in dem es weiter heißt: „/gewesen und sein/gesagt und sagend/aufgeschnitten und ganz/“. „poetische meditationen“, so lautet der Titel des Manuskriptes von Manon Bauer. Und tatsächlich ist eine wesentliche Aufmerksamkeitsfokussierung auf verschiedensten Ebenen erfahrbar. Jedes Gedicht hat ein sorgfältig ausgewähltes Zitat oder Zitatfragment, das in einem Suchprozess der Dichterin zugefallen und mit dem sie in intensive Resonanz geraten ist, als konkreten Ausgangspunkt. „vor dem Leermond habe ich nie/unter die farne geschaut die/sich über buchstaben beugen/als wären sie götter/ …“. Diese Ausgangspunkte oder -worte sind streng und konsequent immer kursiv an den Anfang jedes Gedichtes gesetzt und dadurch klar identifizierbar.
Zusätzlich gibt es am Ende jedes Gedichtes genaue Informationen über die Herkunft der sowohl deutschsprachigen als auch übersetzten Zitate, die u.a. von Paul Celan, Ilse Aichinger, Nora Iuga, Petra Ganglbauer, Sophie Reyer, Raphael Urweider, Julia Costa, Timo Brandt stammen. Dadurch bekommt man nicht nur wertvolle Hinweise und Leseanregungen, sondern auch die Möglichkeit eines intertextuellen oder Hypertextlesens. Es sind meist kürzere Gedichte ohne Endreim, klanglich jedoch oft mit Wiederholungen, Assonanzen und Anlautreimen, die als meditative Fortschreibungen den poetischen Atem der Ausgangsfragmente als ein Einatmen fokussieren. Das Ausatmen wäre dann folgerichtig jedes einzelne entstandene Gedicht selbst. „was atmen bedeutet/in einem solchen wort/jenseits der lautgrenze/blähen die kiemen/und warten/auf wasser/ …“.
„ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 12.10.2023) Lyrik vor.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!