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Daueropposition

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Am 1. März 1970 hat zum erstenmal die österreichische Wählerschaft in der Zweiten Republik einer sozialistischen Partei eine Mehrheit gegeben. Die Volkspartei steht seit März 1970 in Opposition. Heute, auf den Tag genau vier Jahre später, präsentiert sich die oppositionelle Volkspartei auf einem Parteitag, der als Auftakt zur Wiedererringung der Mehrheit konzipiert war, aber zur schonungslosen Personalkritik mißraten ist.

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Am 1. März 1970 hat zum erstenmal die österreichische Wählerschaft in der Zweiten Republik einer sozialistischen Partei eine Mehrheit gegeben. Die Volkspartei steht seit März 1970 in Opposition. Heute, auf den Tag genau vier Jahre später, präsentiert sich die oppositionelle Volkspartei auf einem Parteitag, der als Auftakt zur Wiedererringung der Mehrheit konzipiert war, aber zur schonungslosen Personalkritik mißraten ist.

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„Kreisky hat das Bürgertum vorm Sozialismus bewahrt.“ Der Satz, in die esoterische Atmosphäre eines Wiener Ringstraßencafes gesprochen, drückt die Meinung aus, die nach diesen vier Jahren in der in- und ausländischen Öffentlichkeit deutlich hervortritt. Diese Zweite Republik hat sich selbst und der Welt bestätigt, daß sie offenbar so stabil konstruiert ist, daß ein Parteien-, ein Lagerwechsel für niemanden eine Katastrophe bedeutet. Der Lernprozeß in Demokratie ist total geworden, was jede Partei bei ihrem Kampf um die Mehrheit neuerdings bedenken muß.

Man hat gelegentlich die österreichische Geschichte als ein Auf und Ab zwischen dem reformerischen Josefinismus und dem konservativen Maria-Theresianismus verglichen. Josef II. hat Österreich wahrscheinlich ein österreichisches 1789 erspart; Bruno Kreisky mit seinem Stil der Konsens-Demokratie eine Erschütterung, die sehr wohl 1970 an den Flanken seiner Partei ausgeheckt worden war.

Freilich: diese vier Jahre haben auch kein Schlaraffenland aus Österreich gemacht. Aber immerhin sind doch Probleme gelöst und Vorhaben vorangetrieben worden, die sich nur aus der Tatsache einer absoluten Mehrheit einer Partei plus der Reformfreudigkeit der SPÖ ableiten lassen: sieht man von der Abtrei-bungsregeking ah (die gegen den selbsteingestandenen Willen des Bundeskanzlers zustande kam), muß die Strafrechtsreform und die Erlassung von Nebenigesetzen als Durchbruch in einem der wichtigsten Bereiche der Gesetzgebung — und das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts — gewertet werden. Mit dem Mehrwertsteuersystem ist eine Umkrempelung des fiskalischen Systems erfolgt, die man sich eben vorher nie zugetraut hat. Die Fusionierung von verstaatlichten Unternehmen zeigt Konturen einer Industriepolitik der Regierung an, die als Abkehr vom nur machtpolitischen Hick-Hack der Verstaatlichtengeschichte seit 1945 anzusehen sind. Tatsache ist, daß die Mitbestimmungsregelung einvernehmlich erfolgte und daß das Gewerberecht einer Reform zugeführt wurde, an der die ÖVP vor 1970 fast zerbrochen wäre. Und geht auch die Frage der Bodenbeschaffuing über die innerpolitische Bühne, ist ein weiterer harter Brocken mit viel gesellschaftspolitischer Brisanz durch Konsens gelöst worden. Viel Lob also für die Reformer, viel Lob für Kreisky und sein Team.

Freilich: da sind viele ungelöste, ja nicht einmal ernsthaft gestreifte Problemkreise übrig. Was hat man seit 1970 an Demokratiereform gewagt — obwohl doch gerade die SPÖ erwarten lassen konnte, daß sie die versteinerten Strukturen neu beleben will? Was ist aus der bis 1970 sehr weit vorangetriebenen Neu-kodifikation der Grundrechte geworden, was mit der Rechtsbereinigung, von der Verwaltungsreform ganz zu schweigen? Weiter: diese Regierung konnte sich doch vom Verteilungs-sozialiismus nicht lösen, was sie gleich vielen anderen in der Welt in den Strudel der Inflation hineinriß, aus dem man sich nun kaum mehr freischwimmen kann — es sei dehn durch Opfer gegenüber Wählergruppen, die man aber fürchtet. Und da ist die sträflich vernachlässigte Sicherheitspolitik, die den anderen Vorhaben geradezu geopfert worden ist (siehe dazu auch unsere Seite 3).

„Kreisky hat das Bürgertum vorm Sozialismus bewahrt.“ Und was tut dieses Bürgertum?

In der ÖVP bricht eine Personaldiskussion aus, weil man einer Sachdiskussion bisher ausgewichen ist. Politische Entscheidungsfindung, der „Fünfzehnerausschuß“, der Einsatz des Parlamentsklubs, die Medien-und Finanzierungsfrage der Partei — alles das wurde niemals einer Selbstkritik und Überprüfung unterzogen. Und wer kann hinter dem „Reagieren“ der ÖVP eine verbindliche Oppositionsstrategie erkennen?

Bruno Kreisky ist sehr früh zur Auffassung gekommen, daß die Aufsplitterung des bürgerlichen Lagers ä la Schweden nicht ganz so illusionär ist. Man muß ihm heute recht geben, wenn man von den Diskussionen um eine Absplitterung der stei-rischen VP hört; und man weiß auch, welchem Streß die Bünde ständig unterworfen sind. So wächst das Gefühl der Ohanceralosigkeit, der Verurteilung zur Permanenzopppsition in der Volkspartei weiter.

Nirgends in Europa bot ja auch die Organisationsstruktur des bürgerlichen Lagers so ideale Ansatzpunkte für alle Spaltungsstrategien wie in Österreich, wo eine konservative Partei im üblichen Wortsinn nicht existiert, wo man nicht Mitglied der ÖVP, sondern eines von drei Bünden ist. Jetzt zeigen die Mängel der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Parteiorganisation ihre ganze Gefährlichkeit. Von der ÖVP als Regierungspartei konnten sie überspielt werden. Die Jahre der Opposition müssen nun die Jahre der Reform werden.

Seit 1970 sind erst vier Jahre vergangen. Wie viele Jahre gehen noch ins österreichische Land, bis für die Volkspartei wieder eine Chance kommt?

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