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Der Fall Solschenizyn

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Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn äußert den Verdacht, daß man ihn demnächst verhaften werde. Nicht Stalin wird ihn verhaften, der Mann, der den Ausdruck „Ingenieure der Seele“ für die sowjetischen Schriftsteller erfunden sowie Gorki, Babel und Pilnjak auf dem Gewissen hat, und nicht Shda-now, der den Namen Sozialistischer Realismus geprägt hat und damit den Tod aller Kultur — sondern Breschnjew, der amerikanischen Kindern um den Hals fällt, soweit der Zustand seines Herzens dies zuläßt.

Auf der Suche nach einem Menschen, der Solschenizyn heute helfen könnte, finde ich keinen anderen als Herrn Doktor Henry Kissinger aus Fürth in Franken, der mit Sadat und Dayan ebenso reden kann wie mit Mao und Breschnjew. Sein Gesicht ist es, das heute die Humanitas repräsentiert: Jene schnelle und bewegliche Kraft, die allein uns alle vor dem Abrutsch ins Nichts schützen kann.

Ginge es nach mir, setzte Kissinger sich heute hin und schriebe diesen Brief:

„Sehr geehrter Herr Breschnjew! Sie wissen, warum wir Ihnen und Ihren arabischen Freunden den Weizen nicht gesperrt haben. Was könnte Sie bewegen, dem finstersten Stalinismus nachzuarbeiten und einen Intellektuellen einzusperren, weil er der Welt Erfahrungen mitgeteilt hat, die man in Ihren Zwangsarbeitslagern zu sammeln pflegt?

Er war immerhin zehn Jahre dort und hat ein Recht darauf, der Welt zu sagen, wie es dort zugeht. Dies ist für die heutige Menschheit insofern wichtig, als sie lernen kann, wie der neue Mensch entsteht. Ein neuer Mensch ohne Bedürfnisse, mit dem Wissen darum, was aus der Menschheit geworden wäre, wäre sie immer nur von Machthabern regiert worden.

Sehr geehrter Herr Breschnjew! Hinter sich wissen Sie zehn Millionen Bürger, die sich rund um die Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewik!) scharen.

Gegen sich wissen Sie nicht nur mich, sondern auch Herrn Professor Sacharow, hinter dem die gesamte sowjetische Atomwissenschaft steht. Deshalb wollen Sie ja auch nicht Sacharow verhaften lassen, sondern Solschenizyn, und hinter dem steht bekanntlich nur die literaturbewußte Welt, die keine anderen Waffen zur Verfügung hat als Worte. Worte, Herr Breschnjew, wie sie Ihrem Vorgänger Lenin bis 1917 zur Verfügung standen.“

Zweitausend davon erzeugten 1968 ein Tauwetter, das der ungarische PEN-Präsident Bolizar kürzlich in London beschwor, als er sich dafür einsetzte, die Installation eines sowjetischen PEN-Zentrums zu erleichtern.

Alle Delegationen waren dafür, selbst der DDR-Delegierte Stefan Hermlin, der mir später unter vier Augen mitteilte, der Sowjetische Schriftstellerverband, Aufsichtsorgan der sowjetischen Literatur, hätte gar nichts gegen die Errichtung eines sowjetischen PEN-Zenitxums, änderte man nur einen einzigen Satz in der PEN-Charta: denjenigen nämlich, der die Verteidigung des freien Wortes fordert.

Was bedeutet ein freies Wort zehn Millionen Bürgern? Nichts. Aber zehn Millionen Parteimitglieder ersetzen kein einziges Hirn. Sperrt ihn ein, den Dichter Alexander Solschenizyn, größenwahnsinnige Gewerkschaftler!

Aber vergeßt nicht, daß er euch überlebt.

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