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Die Tage, an denen mein Fleisch verbrennt...

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Diese Tage waren wie Mohnblumen. Nicht wie die runden, weichen, aber wie die wilden, gefiederten. Diese Tage... ! Er stand auf der Straße, und der Teer brannte und der Geruch von feuchtem Staub. Und er sah, daß das Gestirn sehr lebendig war, und er wuchs aus der Stadt durch den Morgennebel in das Geviert des Himmels. Aber eigentlich stand er gar nicht hier, zwischen dem geknickten Häuserwald — und wie sonderbar die Plakatwände aussahen, wenn das Papier heruntergerissen war — eigentlich saß er in seinem Zimmer, und die Linie des Horizontes zerschnitt die Fensterscheiben. Oder er kostete süße, gelbe Marillenmarmelade bei der Nachbarin — damals, als Kind. Und da waren viele Gerüche und viele Bil-

der. Nein, dachte er, das kriegt man nicht mehr los, das klebt an einem wie ein 'altes Kleidungsstück an einem neuen Körper. Trotzdem — so waren diese Tage — immer ein bißchen Fieber und Farbe hinter den Augen und große, sehr große Schritte. Das, dachte er, sind die Tage, an denen mein Fleisch verbrennt. An denen das irrsinnige, wehe Kreisen meines Blutes die Dämme sprengt. Glaube? „Der Glaube ist eine Gnade“ so steht es geschrieben. Oder? Vielleicht der Stern von Bethlehem? Oder die Judastragödie? ... „und nachdem sie Ihn gekreuzigt hatten, wuschen sie mit ihren Haaren Seine Füße.“ Er hingegen glaubte an diese Tage. Nein, nicht an die schwerfällig trüben, die wie aufgekochter Fischsud

die Luft verpesteten. Nicht an das tägliche Einmaleins müder Traro-bahnschaffner. Er glaubte an dieses Brennen in der Kehle, das weder gut noch böse kennt, weder Schuld noch Unschuld, sondern nur da ist, gleichzeitig jedoch wegführt, hinaus, hinüber. Diese Tage,v an denen mein Fleisch verbrennt (dachte er), vielleicht sind nur sie es, die zählen.

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