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VON DEN WUNDERKRÄUTERN

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Anfänglich war es Wißbegierde, was mein älterer Bruder in mir erweckte. Schon als Kind wollte er Arzt werden, er liebte die Pflanzen mehr als die Menschen und die Tiere noch mehr als alle Pflanzen. Gingen wir zusammen fort, so war es meist zum Kräutersammeln. Aber vor allem genoß ich dann jene beglückende Freiheit, die meine Mutter allen ihren Kindern gewährte.

Damals gehörte zu den „Heilpraktikern“ meines Geburtsortes neben dem silbergrauen Dr. Pomie auch eine ganze Reihe von Kräuterweibern. Meine Mutter sprach von ihnen geheimnisvoll und in anklagendem Ton. Damals fehlten solche Kräuterweiber in keinem Dorf. „Alle lebensgefährlich“, sagte meine Mutter. Aber trotzdem folgte ich ihnen durch die Wälder, obschon es mir verboten war Sie waren sehr wortkarg und rochen gut. Auf ihrem Pfad haftete der Duft des bösen Beifußes und der Pfefferminze. Sie waren selbstbewußte, alte Frauen, die ihr Ansehen nicht antasten ließen. Selten setzten sie sich. Wollten sie sich ausruhen, blieben sie einfach stehen und strickten.

Eine von ihnen konnte auch sticken. Mit ihren alten, bebrillten Augen und ihren in Laugen und Pflanzentees verfärbten Händen vermochte sie Wunder zu wirken: mit verästelten Monogrammen reich verzierte Taschentücher für vornehme Damen, Taufhemdehen für verwöhnte Säuglinge, Vorhänge mit Blattwerk und Medaillons sowie Brauthemden, so reich gestickt, daß sie von selbst aufrecht standen, selbst ohne Braut.

Die Zeit hat die Schöpfungen der Kräuter sammelnden Stickerin zerstört, die nur unter dem Namen „La Varenne“ bekannt war. Sie glich aufs Haar jener Hexe, die in den Illustrationen von Gustav Dore zu den Märchen von Perrault Aschenbrödels Karosse aus einem Kürbis schnitzt. Diese Ähnlichkeit steigerte kaum den Ruf von La Varenne. Fragte ich sie etwas, dann brauchte ich kaum eine zögernde Antwort zu befürchten. Sie kannte sofort den betreffenden Namen und konnte sagen: „Das ist gut gegen Warzen... das kann einen Hund töten... das ist Schlangenkraut, wo du es siehst, da sind bestimmt Schlangen in der Nähe... und diese kleinen, behaarten Stengel, die sind vom Fuchsschwanzgras.“

„Warum?“

„Da gibt es kein Warum. Man nennt es das Fuchsschwanzgras. Und das ist das Lungenkraut - ein bewährtes Lungenheilmittel!“

Von einer kleinen, roten BeeTe sagte sie: „Die kannst du essen, es ist Sauerdorn, man kann auch Marmelade davon machen. Man darf ihn aber nicht in der Nähe eines Weizenfeldes pflanzen. Er verdirbt den Weizen . Wart mal. ich werde dir deine Eselsdistel herrichten!“

Sie holte ihr Messer aus der Tasche, zog einen Fausthandschuh an und machte sich daran, der stattlichen Distel, die ja ein wilder und gut bewaffneter Bruder der Artischocke ist, die Dornen abzuschneiden. Wie oft habe ich Eselsdisteln verzehrt, vor allem den Kelchboden mit Essigsoße oder einfach mit Salz!

In meiner Kindheit war mein Verlangen zu lernen nicht sehr verschieden von jenem instinktiven Hunger, der die Katze zur Quecke, das Kind zu den Ribiseln, zu dem wilden Sauerampfer oder der Becherblume treibt. Darüber weiß ein Kind sehr viel weniger Bescheid als ein Tier. Meine letzte Bulldogge in St.-Tropez fraß wie wahllos von den Heilkräutern. Das Erbrechen war für sie notwendig, konnte nicht rasch genug kommen. So begann sie mit den Quecken, spie, ging dann zu einem jungen, wilden Aprikosenbaum, wo sie alle Blätter abfraß, und stürzte sich auf eine schöne Zinnie, von der sie nur die Blüte übrigließ. Schließlich konnte sie sich von ihrer von der südlichen Sonne erhitzten Galle befreien.

Über Abführmittel konnte „La Varenne“ endlos reden. Auch über harntreibende Mittel wußte sie vieles. Ihre inoffizielle Apotheke war sehr reichhaltig an improvisierten Mitteln. Was für eine Fülle von „Hexenkräutern“! In meiner Heimat gibt es wohl mehr Wunderkräuter als einfache Blumen. Gegen Ende seiner Blütezeit verblaßt das Veilchen: Man nennt es dann Hundsveilchen. Auf beinahe weißem Grund hat es malvenfarbene Adern. Es duftet nicht mehr, niemand interessiert sich mehr dafür. Es hat nichts mehr mit dem richtigen Veilchen zu tun, das schon im Februar die Hänge blau bedeckt.

Wir aber sammelten die Hundsveilchen und ließen sie im Schatten des Speichers trocknen. Sie erfüllten das ganze Haus mit einem Duft, der nach den Worten meiner Mutter „gut anfing, aber schlecht endete“. Später sollten sie vom Schnupfen befreien. In keinem Haus unseres Dorfes vergaß man, sie zu sammeln, nie aber sah ich, daß meine Mutter Gebrauch davon machte. Von ihr lernte ich, daß getrocknete Veilchen keinen guten Tee abgeben, genausowenig wie Heu, dagegen die Lindenblüten ...

Ach, die Lindenblüten! Haben sie etwa den Duft der Linde eingeatmet, wenn sie wie ein Vulkan von Bienen und gelbrötlichen Blüten dasteht, ein Rivale des Orangenbaums, ein goldener Regen von Blütenstaub? Ist das nicht genug? Dazu sollen sie noch als Lindenblütentee unsere Erkältungen heilen. Man schreibt ihren Namen auf eines der kleinen Schubfächer mit einem runden Knopf in der Mitte, zusammen mit den anderen Bezeichnungen: Veilchen, Lindenblüten, Eisenkraut, «Pfefferminz, Steinklee, Orangenblüten. Aber man vergesse auch den Huflattich nicht! Ich we-'S nicht mehr, was für Krankheiten er mit seinem gelblichen, wolligen Pfötchen heilt. Er hat aber einen so schönen Namen.

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