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Erinnerung an Mr. Chaplin

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Kürzlich machte ich beim Mittagessen die Bekanntschaft eines sehr berühmten Mannes. Er war ein netter, bescheidener kleiner Mann mit einem bereitwilligen Lächeln und einer schönen Stimme. Sein Akzent war ein durch viele Jahre Aufenthalt in Amerika verbesserter Londoner Akzent.

„Mr. Chaplin”, sagte ich zu ihm, „es muß Augenblicke geben, in denen Sie sich nach Zurückgezogenheit sehnen.”

„Ja”, .antwortete er, „ich habe weit weniger Privatleben als ein Goldfisch.” Ich fand das eine drollige Bemerkung und lachte herzlich, wie man immer über die Witze sehr berühmter Menschen lachen sollte.

Er erzählte mir, daß er gerne in der Stadt spazierengeht und die Läden betrachtet. Aber seine Berühmtheit stehe diesem Vergnügen immer im Wege. Mr. Chaplin ist jedoch nicht umsonst ein Londoner; ewig regt sich in seinem Londoner Herzen die Hoffnung, diesmal wenigstens der Entdeckung zu entgehen. Sie nehmen beim Aufbruch ein Taxi, um die vor dem Hotel wartende Volksmenge zu vermeiden. Und dann schlendern sie durch die Bond Street. Sie schauen in ein Auslagefenster. Gerade wie er so schaut, hört er hinter sich diese bekannten, unvermeidlichen Worte: „Aber er muß es sein, Edith, ich bin ganz sicher, daß er es ist — ich muß ihn einfach berühren.” Daraufhin wird Mr. Chaplin sanft in den Rük- ken geknufft, und bevor er entwischen kann, ist ein Volksauflauf entstanden. Ja, er hat recht. Ein Goldfisch hat mehr Privatleben als er. Und das ist für einen Menschen, der ein ehrlicher Anhänger des einfachen Lebens ist, ein unerfreulicher Zustand.

Wieder meinen eigenen Träumereien nachhängend, seufzte ich, als Charlie Chaplin mir diese Geschichte erzählte, und ich machte die Bemerkung, es wäre am besten, wenn wir alle wieder in die Zeit von vor rund 50 Jahren zurückversetzt würden, als wir noch arm und erfolglos waren. „Durchaus nicht”, meint er, „nicht im geringsten. Ich möchte nicht zurück. Ich finde es heute weit schöner. Ich bin an weit mehr Dingen interessiert. Vor 50 Jahren machte ich mir immer über irgend etwas Sorgen. Heute bin ich nie mehr in Sorge.”

„Ja”, erwidere ich, „alber trotzdem, wissen Sie, Mr. Chaplin — nun, schließlich — die Jugend, die blühende Jugend — und dann war da die Liebe…”

Mr. Chaplin leugnete dieses Element in der Phantasie des jungen Menschen nicht ab. Er sprach äußerst interessant und klug über dieses Thema. Aber wenn ich seine Geständnisse wiederholen würde, wäre das ein Vertrauensbruch. Ich kann nur sagen, daß sie von Schwärmerei lind Begeisterung erfüllt waren. Und daß Mr. Chaplin das Gefühl hat, alles in allem sei das Glück in den einfachen Freuden und der mit Vergnügen getanen Arbeit zu finden,

„Ohne meine Arbeit”, sagte er, „wäre ich ein nichtssagender Mensch.”

„Ein was?” fragte ich ihn,

„Ein nichtssagender Mensch”, wiederholte er.

„Ja, doch”, sagte ich, „freilich.”

(Übertragung von H. B. Wagenseil)

Es ist häufig so, daß das Zusammenkommen einer Anzahl kleiner Tatsachen, deren jede einzelne einfach und harmlos ist, genügt, um eine monströse Summe zu ergeben.

Andrė Gide

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