6630702-1956_35_11.jpg
Digital In Arbeit

Wunderbar unbegreifliches Leben

Werbung
Werbung
Werbung

Waren das noch Zeiten, als Charlie Chaplin seinen Film „Moderne Zeiten“ drehte! Es waren wahrhaft moderne Zeiten: Brechts „Dreigroschenoper“ feierte Triumphe, Joyce schrieb „Finnegan's Wake“, diesen größten ünlesbären Roman aller Zeiten, die Dichtergruppe um Garcia Lorca wurde in Spanien populär und bald darüber hinaus, Klee, Picasso und Chagall malten ihre berühmtesten Bilder — es waren reiche Jahre, die uns viel Neuland erschlossen, diese zwanziger und dreißiger Jahre; bis der zweite Weltkrieg und die Erschütterungen, die ihm vorausgingen, dem allen ein Ende setzten oder es doch in seinem Bestand bedrohten.

Da ging er über die Leinwand, dieser kleine größte Schauspieler des filmischen Zeitalters, mit seinen viel zu langen Schuhen, seinem Bambusstock, seiner ärmlichen „Melone“, und die Leinwand wurde die Welt. Und der Landstreicher, der kleine Mann mit seinem Ungeschick und seinen Wünschen, seinem Bemühen ums tägliche Brot und seinen guten Augen, wurde zum Bild des Menschen. Welch ein Schauspieler! Damals war der Film noch Kunst. Wir sahen alles im Bilde, wurden nicht abgelenkt durch Ton oder Farbe und mußten noch selbst etwas leisten. Das ist überhaupt ein untrügliches Kennzeichen aller Kunst: daß wir selbst etwas leisten müssen, um sie in ihrer Größe und Tiefe zu begreifen. Denn Kunst wird uns nicht, appetitlich verpackt in Nylonsäckchen — wie jetzt etwa „Cinemascope“ — zum Frühstück auf den Tisch gelegt. „Cinemascope“ dagegen ist bestenfalls auf eine Wiederholung äußerer Wirklichkeit gerichtet, ist entschärfte Wirklichkeit in Nylonverr packung...

Kein Wort spricht Charlie Chaplin in seinem Film „Moderne Zeiten“, der, mehr als zwanzig Jahre, nachdem er entstanden ist, nun auch nach Oesterreich kommt. (Ein anderer Chaplin-Film wird uns noch vorenthalten: „Der Diktator.“) Die einzige Stimme, die wir in diesem Film hören, gehört einem Fabriksdirektor, der über eine Anlage zu seinen Arbeitern spricht; auf einem Bildschirm — der Orwell wohl als Anregung für „1984“ gedient haben mag — kann er jede Produktionshalle überwachen. Charlie Chaplin hören wir bloß einmal — in einem kleinen Lied in einer Art „Esperanto-Französisch“. So stark ist die Ausdruckskraft seines Spiels, daß uns der Inhalt des Liedchens völlig klar ist; und erst nachträglich bemerken wir, daß wir den Text eigentlich gar nicht verstanden haben. Die Geste hat das Wort ersetzt, die Pantomime den Vortrag.

Charlie Chaplin war kein Avantgardist, er hat keine Experimente gemacht Große Künstler wissen, was sie tun: sie experimentieren nicht (Wenn auch das Ergebnis oft irgendwie über das Angestrebte hinausreicht, ohne es je in allem zu erreichen) Chaplins Filme sind eine einzige Hymne an das wunderbar irrationale Leben, an den wunderbar unbegreiflichen Menschen. Welch ein Menschenbild bei Chaplin, und welch ein elendes in unseren Verbrecherund Heideförsterfilmen!, Zu welchen Dingen ist der Mensch bei Chaplin noch fähig! Welch große Gefühle kann er in einer armseligen Fischerhütte aufbringen! Doch sollten wir ihn, den kleinen Mann in der Hütte, überschätzen — gleich wird alles wieder ins rechte Maß gerückt; der Stuhl, auf den er sich setzt, steht nur auf wackligen Beinen, die keinen sicheren Halt gewähren. Und erlebt er einen Triumph wie den im Gefängnis, da er, unter der Wirkung eines Rauschgiftes, eine Revolte verhindert — gleich tut er etwas, das zeigt, wie wenig er mit dem, was er tat, irgend jemandem dienen oder sich selbst einen Vorteil verschaffen wollte.

In den Filmen Chaplins — und das ist das Große an ihnen — ist der Mensch wieder unschuldig geworden, ist er wieder der „reine Tor“, wie er es war im „Parzival“ Wolfram von Eschenbachs: und ist dabei doch der Mensch unseres Jahrhunderts geblieben, ausgesetzt dem Räderwerk der Technik, ausgesetzt standardisierter mechanischer Tätigkeit, die seinen Geist zu töten droht und lange lähmt ... In diesem Konflikt des Menschen mit der Technik weiß Chaplin freilich keine echte Lösung zu zeigen; und falsche anzubieten, ist ihm unmöglich; aber die Situation, in der wir uns heute befinden, mit einigen ihrer Absurditäten und Kontrasten schlagartig zu erhellen: das ist ihm wie wenigen gelungen.

Die Filme Chaplins geben uns in ihrer Art ein Stürrk Menschheitsgeschichte. Daß sie es in der Form der Komödie tun, ist ihre wunderbar unbegreifliche Kunst.

Sehen wir jetzt den Film „Moderne Zeiten“ — und wir sollten ihn sehen! —, werden wir das Wort Shaws bestätigt finden, der den „kleinen Landstreicher“ einmal den „einzigen Genius der Leinwand“ genannt hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung