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Geburtstagsgruß zum Achtzigsten an Chaplin

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Verehrter Mr. Chaplin, verzeihen Sie, daß ich ganz persönlich werde, ehe ich mit der Gratulation beginne. Ich bin in politischer Hinsicht sehr rigoros, extrem und kategorisch. Ich glaube, den Feind der heutigen Menschheit zu kennen und kämpfe gegen jeden, der sich zu ihm bekennt oder mit ihm paktiert. Ich habe Thomas Mann und Bertolt Brecht dais politische Liebäugeln mit dem Osten nie verziehen — beide waren große Dichter, ich weiß es und bewundere die Prosa von Mann und die Lyrik von Brecht. Es gibt nur zwei Zeitgenossen, die so groß sind, daß ich sie nicht nur bewundere, sondern nach nichts anderem als nach ihrer Größe frage; sie stehen für mich jenseits von Rot und Böse: Chaplin und Picasso.

Ich würde Schumann und Rossini nicht verzeihen; aber Schubert und Verdi, was immer sie politisch gesagt oder getan hätten, würde ich verehrungsvoll zum Geburtstag gratulieren, wenn sie meine Zeitgenossen wären, ■bt-diesem Sinne: ite feä is aw Es gab im neunzehnten Jahrhuw-' dert eine erste künstlerische Persönlichkeit, die auf der ganzen Welt als bekannt vorausgesetzt werden konnte, die als erste das verwirklichte, echt und buch-* stäblich (und verdientermaßen), was wir „Welterfolg“ nennen: Johann Strauß, den Jüngeren. In unserem Jahrhundert waren und sind Sie es — und ich glaube: nur Sie — dem das gelungen ist. Über die Moden und die Ein-Jahres-Fliegen des Ruhms hinaus, im Bereich höchster, reinster Kunst, in Japan und Südamerika, in Australien und im Hohen Norden, und viele Jahrzehnte lang und heute noch immer, sind Sie der ganzen Menschheit ein Begriff. Eine Welt liebt Sie. Dies haben Sie nicht mit billigen Mitteln erreicht, sondern dadurch, daß Sie die billigen Mittel geadelt und vergeistigt haben. Sie sind kein Komiker und Clown, sondern ein großer Komödiant, aus dem Stoff, der auch Shakespeare und Moliere, Raimund und Nestroy verewigt hat, die auch nur ihr Volk unterhalten wollten. Doch Sie hatten es nicht nötig, wie jene, einer Gegenwart persönlich vorzuspielen und der Nachwelt nur die Anlässe zu hinterlassen: bei Ihnen sind Werk und Wiedergabe in Personalunion verbunden. Sie sind das große Gegenbeispiel gegen sozusagen alles, was die Gattung namens Film auf dem Gewissen hat. Ein Jahrhundert von Filmen ist gerechtfertigt und entsühnt (wenn auch nicht entschuldigt), weil es Sie gibt und weil Sie Ihre Botschaft in dieser Formsprache zu den Menschen getragen haben. Sie sind weise und poetisch, Sie haben die Gabe der allergrößten Meister, die alles Elend der menschlichen Kreatur sehen, nicht leugnen, nicht fälschen, nicht beschönigen, und doch lächeln können und lächeln machen können. Wenn ich traurig war -und an meiner Zeit verzweifeln wollte, habe ich sehr oft gedacht: Ich lebe in derselben Zeit, in den- Charlie Chaplin lebt. Und dann war ich froh und stolz auf meine Zeit. Niemand weiß, was von einer Epoche versinken und was übrig bleiben wird. Aber ich glaube: man darf prophezeihen, daß Sie mit Ihren großen kleinen und großen großen Filmen bis zum herrlichen „Monsieur Verdoux“ mit dabei sein werden, ganz vorne, wenn matn dereinst sichten wird, was unser Jahrhundert wahrhaft Großes in der Kunst hervorgebracht hat.'

Thank you, Mr. Chaplin! Ihr

HANS WE1GEL

Aphorismen zur Lebensweisheit

Wir erleben in der einen Welt, wir denken und benennen in einer anderen und können zwischen den beiden zwar eine gewisse Übereinstimmung herstellen, doch die Kluft nicht wirklich überbrücken. Marcel Proust

Der größte Künstler wird kein Bild ersinnen, das nicht der Marmor schon in sich verschlösse, doch jener nur vermag es zu erschaffen, er, dessen Hand dem Geist weiß zu gehorchen. Michelangelo

Ich fange an zu glauben, daß man unter berechtigte Vorwürfen mehr leidet als unter solchen, die man gar nicht verdient. Andre Gide

Wo Worte selten, haben sie Gewicht. Shakespeare

Wenn du neben dir einen Hund verhungern siehst, so wirst du ihm von deinem Essen mitteilen, das versteht sich von selbst. Nun, ich verlange nur, daß du mit einem Mitmenschen fühlst wie mit einem Hunde, nämlich: im Falle der äußersten Not: solidarisch. Christian Morgenstern

Ich weiß, daß ein feuriges Pferd auf elendem Steige samt seinem Reiter den Hals brechen kann, über welchem der bedächüiche Esel, ohne zu straucheln, gehet. Lessing

Nichts verlangt im Leben mehr Vorsicht als die Dinge, die natürlich erscheinen; dem Ungewöhnlichen mißtraut man stets von selber. Balzac

Wohlwollen und Liebe können nicht gehegt werden, ohne den Träger selbst zu veredeln. Gottfried Keller

Ich sage euch, daß die bloße Bildung des Verstandes, abgesondert von der Entwicklung der moralischen Kräfte des Menschen, nur ein Irrweg ist, der den Ruin der Gesamtheit der menschlichen Kräfte nach sich ziehen muß. Pestalozzi

Ein Ruhm, der schnell erfolgt, erlischt auch früh. Schopenhauer

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