7078916-1993_28_07.jpg
Digital In Arbeit

Langsamfahren wird akzeptiert

19451960198020002020

Obwohl eine erste umfassende Beurteilung des Tempo-30-Großver-suches in Graz erst im Herbst vorliegen wird, läßt sich jetzt schon sagen: Unfälle mit Personenschaden sind um 24 Prozent zurückgegangen, die Bevölkerung beurteilt Tempo-30 positiv.

19451960198020002020

Obwohl eine erste umfassende Beurteilung des Tempo-30-Großver-suches in Graz erst im Herbst vorliegen wird, läßt sich jetzt schon sagen: Unfälle mit Personenschaden sind um 24 Prozent zurückgegangen, die Bevölkerung beurteilt Tempo-30 positiv.

Werbung
Werbung
Werbung

Tempo-30 ist heute ein anerkannter Mosaikstein für einen stadtverträglichen Verkehr. Üblicherweise wird darunter die zonenweise Einführung für einzelne Stadtteile verstanden. Dies geschieht mit dem Zonenverkehrszeichen für Tempo-30 der Straßenverkehrsordnung und wird in der Regel mit begleitenden straßenbaulichen Maßnahmen wie „Einfahrtstore” durch Einengungen, Aufpflasterungen und so weiter begleitet.

Die Erfahrung zeigt, daß eine stadtweite, flächendeckende Umsetzung aus Kosten- und Zeitgründen ein Jahrzehnte dauerndes Programm darstellt und zu einer Flut an Verkehrsschildern führen würde.

Deshalb wurde in Graz ein anderer Weg in Form eines für zwei Jahre angesetzten Großversuches beschritten: Am Stadtrand wird durch torartig aufgestellte Verkehrs-und Informationsschilder dem Autofahrer signalisiert, daß für alle Vorrangstraßen (gekennzeichnet durch das Vorschriftszeichen „Vorrangstraße”) Tem-po-50 und alle nicht be-vorrangten Straßen Tempo-30 gilt. Dies geschieht durch eine Zonenbeschilderung, wobei das gesamte Stadtgebiet eine Zone darstellt. Damit ergibt sich für den Verkehrsteilnehmer derselbe Effekt, als ob bei jeder von einer Vorrangstraße abzweigenden Nebenstraße ohne Vorrang eine Tempo-30-Zone beginnen würde. Die Vorrangstraßen teilen also das gesamte Stadtgebiet in quasi „Tempo-30-Zonen”. Die Gesamtbilanz für Graz zeigt, daß zirka 75 Prozent des 800 Kilometer langen Straßennetzes im Stadtgebiet Tempo-30-Straßen sind. Einzelne, besonders sensible Straßenabschnitte (zum Beispiel vor Schulen) von Vorrangstraßen wurden zusätzlich mit Tempo-30 belegt.

Rechtlich betrachtet besteht allerdings zwischen der herkömmlichen und der Grazer Lösung ein großer Unterschied. Die vor dem Versuch eingeholten Rechtsauskünfte beim Verkehrsministerium, bei der Verkehrsrechtsabteilung des Landes und bei Verfassungsrechtlern ergab keine

Bedenken für die Grazer Lösung. Für die straßenrechtliche Verordnung wurde in einem verkehrstechnischen Ermittlungsverfahren die Eignung aller für Tempo-30 vorgesehenen Straßen überprüft. Die begleitenden Maßnahmen beschränken sich auf eine intensive Öffentlichkeitsarbeit während der mehrmonatigen Vorbe-reitungs- und Versuchsphase. Diese bestanden beziehungsweise bestehen aus Informationsveranstaltungen (Enquete, Vorträge, öffentliche Diskussionen und so weiter), Straßeninformationsständen, an Interessenvertreter und Haushalte zugeschickte Informationsfalter, Zeitungsannoncen, Medienberichte, Informationstafeln und -transparenten im Straßenraum. Das Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit ist es, die Akzeptanz der Verkehrsteilnehmer für die Einhaltung von Tempo-30 sowie die grundsätzliche Einstellung und Zustimmung aller Bürger zu Tempolimits.

Aufwendige Untersuchung

Im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1993 ist eine weitere Informationswelle geplant. Darüber hinaus ist in dem Tempo-30-Straßennetz die schrittweise Umstellung von Kreuzungen mit bevorrangten Straßen auf gleichberechtigte Straßenzufahrten mit, .Rechtsvorrangregelung” vorgesehen.

Ein wesentlicher Bestandteil des Modellversuches ist die Bereitschaft und Ankündigung der Grazer Polizei, die Einhaltung durch Autofahrer und Radfahrer zu überwachen.

Um zum Ende der zweijährigen Versuchsphase eine umfassende Darstellung der Effekte (Vor- und Nachteile) zur Verfügung zu haben, wurde ein aufwendiges Untersuchungsprogramm (Ex-Postvergleich) mit folgendem Inhalt erstellt:

□ Unfallanalyse,

□ Geschwindigkeitsverhalten,

□ Verkehrsverhalten der Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer im Straßenraum,

□ Routen- und Verkehrsmittelverlagerung durch Tempo-30,

□ Lärm- und Abgasuntersuchung,

□ Einstellung der Bewohner und Verkehrsteilnehmer.

Diese Untersuchungen werden gemeinsam vom Kuratorium für Verkehrssicherheit und der Technischen Universität Graz durchgeführt.

Ohne das gesamte Ergebnis vor Fertigstellung der umfassenden Begleituntersuchung vorwegnehmen zu wollen, zeigen die ersten Rohergebnisse ein sehr positives Bild:

□ Unfallentwicklung: Im Vergleich der Monate September 1991 bis März

1992 (vor Einführung von Tempo-30) mit September 1992 bis Februar

1993 (mit Tempo-30) haben die Unfälle mit Personenschaden um 24 Prozent abgenommen (siehe Graphik). Für denselben Zeitvergleich ergibt sich in anderen Landeshauptstädten eine Zunahme von bis zu 20 Prozent.

Ähnliche Reduktionen sind bei den Daten der schwer- und leichtverletzten sowie toten Unfallopfern, aber auch bei den Unfallzahlen mit Fußgänger- und Radfahrerbeteiligung festzustellen.

Besonders interessant ist das Faktum, daß diese positive Entwicklungstendenz sich schon im April 1992 abzeichnete. Dieser Zeitpunkt stimmt mit dem Beginn der intensiven Diskussions- und Informationsphase über Tempo-30 sowie der Geschwindigkeitsüberwachung durch die Polizei mit den neuen „Laserpistolen” überein. In den Vergleichsstädten hat die im selben Zeitraum eingesetzte Geschwindigkeitsüberwachung keinen Reduktionseffekt gehabt. Die Einführung von Tempo-30 hat also einen starken Bewußtseinsprozeß bezüglich der Verkehrssicherheit und Tempoverhalten ausgelöst.

Massive Information

□ Meinungsbildung und Akzeptanz: Die Einstellung zu Tempo-30 hat sich stark verbessert. Während vorher nur 44 Prozent dafür waren, stimmen einen Monat nach Versuchsbeginn 60 Prozent und heute 72 Prozent zu.

□ Einschätzung der Folgewirkungen von Tempo-30: Vor Versuchsbeginn bestand trotz Aufklärung ein relativ schlechtes Informationsniveau über die Auswirkungen von Tempo-30: Vorher waren 68 Prozent der Meinung, daß durch Tempo-30 der Verkehrsstau zunimmt. Jetzt sind nur mehr 37 Prozent dieser Meinung. Bei den Umweltauswirkungen zeigt sich ein ähnliches Ergebnis. Nach Einführung von Tempo-30 ist eine starke Zunahme der Personen zu verzeichnen, die durch diese Maßnahme positive Umweltauswirkungen erwarten.

□ Geschwindigkeitsverhalten: Die ersten Messungen zeigen in Tempo-30-Straßen ein geringes Sinken der Durchschnittsgeschwindigkeiten. Etwas deutlicher nehmen aber die Spitzengeschwindigkeiten ab. Durch die geplante Umstellung auf die Rechtsvorrangregel in Verbindung mit intensiver Information und veränderten Bodenmarkierungen soll das Geschwindigkeitsverhalten stärker beeinflußt werden.

Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse der Begleituntersuchung haben die positiven Erwartungen voll bestätigt. Eine umfassende Beurteilung des Tempo-30-Großversuches ist aber erst nach Abschluß der Begleituntersuchung im Herbst 1993 möglich. Der Autor ist Ass.-Professor im Institut für Straßenbau und Verkehrswesen an der Technischen Universität Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung