Wien ist anders, leider auch beim Radverkehr

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Mit steigender Motorisierung erstickt auch Wien zunehmend im Verkehr. Die anderswo geförderte Alternative Fahrrad kommt allerdings in Wien zu kurz, ja wird den Fans sogar oft verleidet.

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Mit steigender Motorisierung erstickt auch Wien zunehmend im Verkehr. Die anderswo geförderte Alternative Fahrrad kommt allerdings in Wien zu kurz, ja wird den Fans sogar oft verleidet.

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Szene 1, Wien, Alserstraße: Ein Polizist winkt einen Pkw zur Seite und bittet den Lenker um seine Papiere. "Wissen Sie, warum ich Sie aufgehalten habe?" Der Fahrer verneint höflich. "Sie haben beim Ausweichen vor einem einparkenden Fahrzeug die durchgezogene Sperrlinie überfahren!" Der Autolenker zeigt das erwünschte Maß an Demut und Schuldbewußtsein, erhält seine Papiere zurück und kann fahren mit der Ermahnung: "Das nächste Mal müssens halt eine Minute Geduld haben!"

Szene 2: Ein Radfahrer biegt in die Währingerstraße ein, wo eine Tram steht. Da auf der Gegenspur kein Verkehr ist, will er die Straßenbahn überholen und überfährt dabei eine durchgezogene Sperrlinie. Ein Polizist hält ihn auf und erstattet Anzeige wegen Überfahrens einer Sperrlinie. Alle freundlichen Versuche, ihn zu etwas Augenmaß und Angemessenheit seines Amtshandelns zu bewegen, bleiben fruchtlos. 800 Schilling Strafe.

Szene 3, am Gürtel, Kreuzung Alserstraße: Drei Wachorgane stehen an der Ecke. Bei Rot rast ein Auto mit geschätzten 70 Stundenkilometern vom Berg herunter über die Kreuzung. Frage an die teilnahmslose Politesse: "Bitte, haben Sie das gesehen?" Antwort: "Was soll' ma machen? Mir können eam doch net hinterherlauf'n!"

Man erlebt so einiges im Wiener Verkehr, und manchmal ganz Besonderes mit der Exekutive. Ständig passieren Regelverstöße und Übertretungen, das weiß jeder. Da und dort ahndet die Polizei, das ist gut. Doch wo und wie?

Es muß die Frage nach der Sinnhaftigkeit der polizeilichen Aktionen deutlich und öffentlich gestellt werden. Bisweilen scheint das Motto vorzuherrschen: Wer uns in die Finger kommt, wird bestraft; was Mühe machen würde, soll bleiben, wie es ist. Und umweltfreundliche, relativ ungefährliche und platzsparende Radfahrer sind langsam und werden deshalb mit offenen Armen aufgehalten.

Polizei: Recht streng mit den Radfahrern Ein Pkw mit hoher Geschwindigkeit ist hingegen lebensgefährlich - doch wer Radio Wien hört, wird ja rechtzeitig gewarnt - vor der Polizei: "Achtung Autofahrer, geblitzt wird in der ..."

Daß die realen Begebenheiten der drei Szenen keine Ausnahmeerscheinungen sind, weiß Hans Doppel von der "Arbeitsgemeinschaft umweltfreundlicher Stadtverkehr" ("Argus"). Dort ist bekannt, daß bestimmte Wachstuben besonders gerne gegen Radler vorgehen. In nicht nur einem Fall wurde durch Addieren kleiner Delikte (wie des Fehlens vorgeschriebener Radausrüstung) eine Strafverfügung von 8.000 Schilling zusammengebastelt. Offenkundig eine vertrauensbildende Maßnahme der Polizei.

Den Hintergrund zu dieser grotesken Szene bildet die vollmundige Erklärung der Wiener Politik, die Stadt zur "Umweltmusterstadt" zu machen. Um Millionen wird inseriert und plakatiert für die "Radoffensive". In vergleichbaren Städten werden sehr viel mehr Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt: in München 15 Prozent, in Salzburg und Graz je etwa 20 Prozent - von holländischen Städten, die zum Teil auf über 50 Prozent kommen, ganz zu schweigen. Solche Mobilitätsgestaltung ist in jeder Hinsicht zukunftsweisend: Platzsparend, ressourcenschonend, ungefährlicher, weniger umweltverschmutzend, lärmärmer, billig, streßfreier, kommunikativer, gesünder.

Dazu wurde 1994 vom Gemeinderat das Wiener Verkehrskonzept beschlossen mit dem Ziel, den im Vergleich beschämend geringen Radverkehrsanteil von vier Prozent bis zum Jahre 2010 auf acht Prozent zu verdoppeln. Zur Verhinderung dieses Ziels arbeiten Politiker, Verkehrsplaner und Exekutive nun konsequent zusammen: * Die Stadt Wien entledigt sich der Verantwortung für eine übergreifende, koordinierte Verkehrsplanung und teilt den Bezirken die Gelder zur eigenständigen Verwendung zu. Seit heuer fällt alles (mit Ausnahme der "Öffentlichen" und der Bundesstraßen) in deren Kompetenz. Lediglich 7,5 Millionen Schilling planen hierbei die 23 Bezirke 1998 für den Radverkehr ein (für Straßenbau insgesamt 414 Millionen, zusätzlich zu den Millionen aus dem Zentralbudget).

Für die Förderung des Garagenbaus stehen im selben Zeitraum aus dem Zentralbudget 275 Millionen zur Verfügung, etwa ebensoviel wie für den zentralen Straßenbau.

* 1997 begonnene Projekte für den Radverkehr werden für heuer von der Stadt mit ca. zehn Millionen fortgeführt, doch ab 1999 dürfte kein Geld mehr fließen.

* Die Folge der Dezentralisierung ist eine wesentliche Erschwerung sinnvoller Verkehrskonzeption. Zur Realisierung eines Radweges müssen sich zusammenfinden: Magistratsabteilung (MA) 18 (Stadtstrukturplanung), MA 28 (Straßenbau), das Radverkehrsreferat der MA 46, die betroffenen Bezirksvertretungen, die Fachkommission Verkehr (genannt "Ohrwaschelkommission"); zusätzlich werden zur Projektverhandlung Polizei und Verkehrsamt, die Wiener Linien, die Wiener Wirtschafts- und die Arbeiterkammer sowie die Magistratsabteilungen 48, 19, 21, 30, 31 und 33 beigezogen.

* Das Ergebnis solchermaßen durchorganisierter Verkehrsplanung zeigt sich in den bedeutenden Straßenumbauten der letzten Jahre. Die bekanntesten Beispiele sind die Mariahilferstraße und die Alserstraße, wo der Radverkehr nun auf eine schmale Fahrspur zusammen mit den Autos gezwungen wird. Zwischen parkenden und überholenden Pkws eingezwängt, gibt es gefährliche Verletzungen durch unachtsam geöffnete Autotüren. Die Alserstraße etwa ist indessen eine Hauptverkehrsroute zur Universität und die einzig brauchbare Verbindung vom 17. und Teilen des 18. sowie 9. Bezirks in die Innenstadt. Ist es sinnvoll, daß die Exekutive hier mit Kübelwagen auf Radler Jagd macht, welche auf die Straßenbahnschienen ausweichen?

Für flüssigen und sicheren Verkehrsfluß Recht ist es, wörtlich genommen. Ist es billig?

Wenn die ethische Tugend der Billigkeit der flexible Umgang mit Regeln gemäß ihrer situativen Sinnhaftigkeit ist, dann könnte von den Exekutivorganen ein entsprechendes Augenmaß erwartet werden. Wenn so selektiv geahndet wird, sollte die Auswahl nach vernünftigen Kriterien erfolgen. Denn das Ziel von Verkehrsplanung und -überwachung ist ein möglichst reibungslos und sicher verlaufender Verkehr - und zwar möglichst mit umwelt- und ressourcenschonenden Verkehrsmitteln.

Dafür genügen allerdings nicht nur Verbesserungen im öffentlichen Verkehrsnetz, die in Wien tatsächlich ständig erfolgen und gut angenommen werden. Nach der Mobilitätserhebung der Socialdata (Wien 1993) ist den Wienern und Wienerinnen "klar, daß eine anhaltende Verringerung der Verkehrsbelastungen nur durch einschränkende Maßnahmen gegenüber dem motorisierten Individualverkehr erreicht werden kann." Währenddessen benutzt jeder zweite voll Berufstätige den PKW als Hauptverkehrsmittel zur Arbeit, wie eine Untersuchung der AK Wien feststellt, die übrigens die Chancen des Radverkehrs weitgehend vernachlässigt.

Es ist höchste Zeit, daß sich aus den Lippenbekenntnissen und den verkehrswissenschaftlichen Erkenntnissen ein klarer und konsequenter politischer Wille bildet zu einer umwelt- und menschengerechten Neugestaltung der Stadtmobilität. Diese Vision könnte sich dann auch auf der Straße bemerkbar machen - vielleicht sogar in einer vernünftigen Mentalität und in situativ angemessenem Reagieren der Exekutive.

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