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Wo bleiben die Humanisten?

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Ein grundlegend wichtiger Begriff und eine ihm entsprechende Haltung scheinen heute an Blutarmut, wenn nicht gar an Leukämie zu leiden: Dieser Begriff heißt Humanismus. Der Klarheit willen möchte ich ergänzen: der europäische, also der christliche Humanismus.

Endlich könnte das Vorurteil begraben sein, daß der Humanismus einst eine antichristliche Bewegung gewesen ist. Dies war eine Auslegung seiner Feinde. Der historische Humanismus war ein Sproß, ein Trieb der christlichen Position, die der Entwicklung der Zeit, des zunehmenden Wissens und den Erkenntnissen der Naturwissenschaft gerecht werden sollte. Sowohl Petrarca als auch Erasmus von Rotterdam als auch Kopernikus und Galilei schrieben ihre Werke „ad maiorem Dei gloriam”, und zwar zur Ehre des Gottes der Bibel - man kann ihre Erklärungen dazu seitenlang zitieren. Die Unkenntnis dieser Tatsache hat die Kirche lange Zeit gehindert, den Humanismus mit voller Zustimmung anzuerkennen, zu begrüßen und zu unterstützen. Erst spät hat sie dies getan, und unzählige „Humanistische Gymnasien”, sehr oft mit Hilfe der Benediktiner, errichtet Inzwischen gab es marxistische Konkurrenzversuche, die einen marxistischen, dann bloß sozialistischen Humanismus aufzubauen bemüht waren, wobei ich vor allem die Namen Eduard Bernstein, Georg von Vollmar und - im psychologischen und pädagogischen Bereich - Alfred Adler nennen möchte. Viele weitere Namen, gerade in Wien, wären anzuführen, die zu dieser Bichtung gehören.

Beschäftigt man sich heute mit diesen beiden Strömen des Humanismus in der Zwischenkriegszeit, so gewinnt man den Eindruck, daß es sich damals um eine grundsätzlich andere Epoche als heute gehandelt hat. Das wäre nicht schlimm, wenn wir daran denken, daß es damals auch Hitler, Lenin und Stalin gegeben hat. Solche Figuren - hoffen wir es - haben wir heute nicht. Aber wohin ist der Humanismus entschwunden?

Eine sich überall hineinfressende Anarchie scheint ihn aufgekehrt zu haben. Ein psychiatrischer Nihilismus, ein ausufernder, alles umfassender Belativismus im Wahnsinn eines „Anything goes” von Paul Feyerabend (auch er stammte aus Wien) verwandelt alles Feste in Flüssigkeit und schafft es beinahe, jegliche Werte und Ideale in postmoderner Verhöhnung als unhaltbare, reaktionäre Tradition erscheinen zu lassen.Wo bleiben die Humanisten? Wo ist ihr Zusammenstehen, ihr Zusammenwirken gegen diese Absurdität der totalen Verneinung? Noch sind sie nicht ganz verschwunden, aber sie sind in der Defensive. Als Zuruf von Wachtposten zu Wachtposten, die fern genug voneinander stehen, mögen diese W7orte verstanden werden.

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