Arme voll Silberbesteck

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William L. Shirer beschreibt, wie schamlos die SS das Wiener Rothschild-Palais ausräumte.

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William L. Shirer beschreibt, wie schamlos die SS das Wiener Rothschild-Palais ausräumte.

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Der Journalist beschreibt, was er auf dem Karlsplatz gesehen hat, was auf der Kärntnerstraße los war, wie er in die Argentinierstraße zum Rundfunkgebäude eilte und mit seinem Bericht nach London flog. Über Berlin und Amsterdam, weil er nach London nicht mitkam, "obwohl ich mehreren Passagieren phantastische Summen für ihr Ticket anbot. Die meisten von ihnen waren Juden, ich konnte es ihnen nicht verdenken, daß sie mich abwiesen." Bis Mitternacht sei ein Flugzeug für Bundeskanzler Schuschnigg bereitgehalten worden, erzählt ihm ein Polizeibeamter, aber er habe sich geweigert, zu fliehen. Nun ist der ganze Flughafen bereits voll mit deutschen Militärmaschinen.

Der Journalist ist Amerikaner, er heißt William L. Shirer und sein Abstecher nach Wien und sein Bericht über den 11. März 1938 füllt nur wenige Seiten in seinem nun als Taschenbuch wieder erhältlichen "Berliner Tagebuch". Aber in ihnen ist die Atmosphäre der Anschlußtage konzentriert, gesehen von einem unbestechlichen Beobachter. Am 12. März berichtet er, frei von der Nazi-Zensur, in einer Konferenzschaltung aus London über die Besetzung Österreichs. Wenige Tage später ist er wieder in Wien. Er wohnt direkt neben dem Rothschild-Palais. Auch der Eingang in sein Haus ist abgesperrt.

"Ein riesiger SS-Mann begleitete uns in das Gärtnerhaus direkt neben unserem Gebäude ... Beim Eintreten stießen wir beinahe mit einigen SS-Offizieren zusammen, die Silber und anderes Raubgut aus dem Souterrain heraufschleppten. Einer trug ein goldgerahmtes Gemälde unter seinem Arm. Ein anderer war der Befehlshabende. Seine Arme waren mit silbernen Messern und Gabeln beladen, doch er geriet überhaupt nicht in Verlegenheit. Ich erklärte ihm unseren Beruf und meine Nationalität. Er lachte leise und wies die Wache an, uns bis zu meiner Wohnungstür zu eskortieren ... Wir fanden eine stille Bar in der Kärntnerstraße. Ed war ein wenig nervös. ,Laß uns woanders hingehen', schlug er vor. ,Warum?' ,Ich war gestern abend etwa zur gleichen Zeit hier', sagte er. ,Ein Mann mit jüdischem Aussehen stand an der Theke. Nach einer kleinen Weile zog er ein altmodisches Rasiermesser aus der Tasche und schnitt sich die Kehle durch.'"

Shirer lebte von 1934 bis 1940 als Korrespondent in Berlin und schrieb nach dem Krieg das Standardwerk "Aufstieg und Fall des Dritten Reiches". Im "Berliner Tagebuch" schildert er den täglichen Kleinkrieg der in Berlin akkreditierten Journalisten aus neutralen Ländern mit Goebbels' Reichspropagandaministerium und den anderen NS-Dienststellen, Begegnungen, unter anderem mit dem 1946 hingerichteten britischen Nazi-Propagandisten William Joyce ("Lord Haw-Haw") bei einer Flasche Schnaps während eines Luftangriffs auf Berlin, die Reaktionen der nazifeindlichen Journalisten in Berlin auf die deutschen Siege, die Wut angesichts des britischen Rückzugs aus Norwegen, Kontakte mit Deutschen, vor allem aber die Atmosphäre. Daß das Buch des Amerikaners erst 1991 erstmals auf deutsch verlegt wurde, ist kaum zu verstehen. Shirer kehrte 1944 nach Europa zurück und berichtete aus dem zerstörten Berlin, über den Nürnberger Prozeß, über die Anfänge des Kalten Krieges: "Haben wir dafür gekämpft?"

Berliner Tagebuch Von William L. Shirer, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999 Band 1: Aufzeichnungen 1934-1941, 574 Seiten; Band 2: Das Ende 1944-1945, 460 Seiten, Tb, öS 364,

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