Viel Freude über ERNSTES

19451960198020002020

Das 71. Filmfestival von Locarno markierte das Ende der Ära ihres Leiters Carlo Chatrian. Er wird künftig der Berlinale vorstehen.

19451960198020002020

Das 71. Filmfestival von Locarno markierte das Ende der Ära ihres Leiters Carlo Chatrian. Er wird künftig der Berlinale vorstehen.

Werbung
Werbung
Werbung

Einer freute sich am vergangenen Samstag besonders: Natürlich lächelten auch die Macher der prämierten Filme um die Wette, aber Carlo Chatrian war die Erleichterung in seinem strahlenden Gesicht förmlich anzusehen. Schließlich waren die vergangenen zehn Festivaltage der Abschluss eines langen Lebenskapitels, das ihm viel Freude brachte -und nun bricht der seit 2012 als künstlerischer Leiter des Locarno Filmfestivals tätige cinephile Italiener Chatrian seine neue, bisher größte Herausforderung an: Er wird ab 2020 die Geschicke der Berlinale leiten, als Nachfolger von Dieter Kosslick, der seinen Abschied im kommenden Jahr feiert, nach 18 Amtsjahren.

Chatrian wird dann im Olymp der "großen Drei" angekommen sein, da darf man seine Vorfreude mit Dauergrinsen gerne zeigen: Während Locarno als das kleinste (und risikofreudigste) aller sogenannten A-Festivals gilt, ist Chatrian ab 2020 im Dreiklang mit Cannes und Venedig an der Spitze von dem angelangt, was Film-Festival-Direktoren erreichen können. Da hat man gut lachen.

So ganz wird er sein Verständnis vom Kino als Ort der Kunst an der Spree wohl nicht beibehalten können, sind sich Insider sicher: Denn Chatrian hat Locarno mustergültig und präzise genau so geführt, wie diese Filmschau immer schon intendiert war: Als Ort der Entdeckungen für die entlegensten Künstler und Filmschaffenden der Welt. Als Platz für sprödes, intelligentes und berührendes Kunstkino, das dem Mainstream nur bei den Open-Air-Vorstellungen auf der 8000 Zuschauer fassenden Piazza Grande ein wenig Raum gibt. Für die Berlinale wird Chatrian einen größeren Spagat zwischen Kunst und Kommerz eingehen müssen, denn ein Festival vom Format der Berlinale braucht eben auch Stars.

Die gibt es in Locarno stets nur außerhalb des Wettbewerbs, und auch nur in feinen Dosen: Heuer schauten etwa Meg Ryan und Ethan Hawke vorbei und bekamen Ehren-Leoparden überreicht. Es sind Schlaglichter aus Hollywoods Welt, die Locarno nur kurz streifen. Denn in den Kinosälen regiert ernsthaftes Arthaus-Werk, was sich auch bei der diesjährigen Preisverleihung niederschlug.

Zum Beispiel beim Hauptpreisträger "A Land Imagined" von Yeo Siew Hua aus Singapur, der darin die Ausbeutung der Gastarbeiter auf den Großbaustellen des Inselstaates thematisiert. Ein Cop geht auf die Suche nach einem verschwundenen chinesischen Gastarbeiter, und dieses Setting setzt der Regisseur wie einen Film noir in Szene: Die Großbaustellen skizziert er in kontrastreichen, wohlkomponierten Bildern, die dem Zuschauer eine Mischung aus Liebesgeschichte und Crime-Thriller auftischen. Yeo Siew Hua nutzt zwar ein Genre-Setting zu seiner Erzählung, entfernt sich aber weit von jedem Mainstream. Dem Regisseur gelingt es in seiner sprunghaften Erzählweise jedoch nicht, vom schablonenhaften Format seiner Figuren abzukommen.

Sexueller Missbrauch in jüdischer Gemeinde

Mit einem Spezialpreis der von dem chinesischen Regisseur Jia Zhang-ke angeführten Jury, in der auch die österreichische Filmemacherin Tizza Covi saß, wurde der Dokumentarfilm "M" der Französin Yolande Zauberman ausgezeichnet. Die jüdische Filmemacherin thematisiert sexuellen Missbrauch innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft in der israelischen Stadt Bnei Brak. Als beste Regisseurin wurde die Chilenin Dominga Sotomayor für "Tarde para morir joven" prämiert. Der Film erzählt vom Erwachsenwerden in einer Kolonie voller Aussteiger im Sommer 1990, kurz nach Ende der Diktatur in Chile.

Hochverdient als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde die junge Rumänin Andra Gut¸i für die Hauptrolle in "Alice T.". Der Film schildert die Wirrungen im Gefühlsleben einer 16-jährigen, die ihre ungewollte Schwangerschaft beenden möchte, aber mit sich hadert. Als bester Darsteller ging Ki Joobong als lebensmüder Dichter im südkoreanischen "Gangbyun Hotel" ins Ziel. Das schwarzweiße Melodram stammt von Hong Sang Soo, der in Locarno bereits 2015 für "Right Now, Wrong Then" den Goldenen Leoparden erhielt, und dem man auch heuer wieder eine Favoritenrolle zutraute -doch die Jury wollte es anders.

In der Reihe "Cineasti del presente" wurde ein heimischer Beitrag mit dem mit 40.000 Franken dotierten Hauptpreis ausgezeichnet: In dem dokumentarischen Essay "Chaos", Mittelteil einer geplanten Trilogie über das Leben syrischer Frauen vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs, fühlt sich die 35-jährige Regisseurin Sara Fattahi, die seit zweieinhalb Jahren in Wien lebt, in die Lebenswelten dreier syrischer Frauen im Exil ein. Auch sie freute sich sehr über den Preis.

Und damit Carlo Chatrian auch nach dem Schlusspfiff in Locarno was zu lachen hatte, bekam er ein besonderes Abschiedsgeschenk in Form eines Spezialleoparden mitsamt Flugticket nach Berlin. Ein Rückflugticket war auch dabei -falls ihm dort das Lachen doch noch vergehen sollte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung