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Zum 100. Geburtstag der französischen Feministin Simone de Beauvoir zeigt sich, wie aktuell auch heute noch ihre Thesen über die Konstruktion der Geschlechterrollen sind.

Simone de Beauvoir war eine kämpferisch Frau. Zeit ihres Lebens engagierte sie sich gegen Unterdrückung und Engstirnigkeit, setzte sich dafür ein, ihren Mitmenschen - und dabei insbesondere den Frauen - ein Bewusstsein für ihre Würde zu geben. Menschsein bedeutete für Beauvoir Selbstbestimmung, die Realisierung selbstgewählter Entwürfe und Projekte und die Ablehnung von Fremdbestimmung, Unterdrückung und Ausbeutung, bei welcher die Person zu einem Mittel zum Zweck, zu einem Ding, einem Objekt herabgemindert wird.

Beauvoir holte die Frauen aus der Opferrolle heraus; dadurch machte sie sich nicht immer beliebt, denn selbst unter Frauen sieht man es immer noch lieber, wenn man schwach und hilfsbedürftig ist. Immer noch werden Frauen, die den Mut haben, sich öffentlich zu Wort zu melden, mit Argwohn bedacht. Es ist eben nicht leicht, sich aus jahrtausendealten Konditionierungen zu befreien. Das meinte Beauvoir, als sie ihren wohl berühmtesten Satz formulierte: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Die Gesellschaft, ja die ganze Zivilisation trägt dazu bei, aus einem Kind eine Frau zu machen. Alle erzieherischen und sozialisatorischen Maßnahmen, aus Kindern "richtige" Frauen und Männer zu machen, wären unverständlich, wenn wir aufgrund unserer Biologie oder unserer Gene von vornherein auf etwas Bestimmtes festgelegt wären. Frausein ist keine rein biologische Gegebenheit, sondern eine soziale Konstruktion.

Beauvoirs Existenzialismus lehnt jede Festlegung des Menschen auf etwas Bestimmtes ab: der Mensch ist nicht das, was er "ist", z.B. seine Hautfarbe, seine Ethnie, sein Geschlecht, sondern das, was er aus sich macht. Daher kann man auch nie von einer Frau sagen, was sie "ist", es gibt keine "weibliche Natur", aus der man das Wesen der Frau ableiten könnte.

Definition von "Frau-Sein"

Aber macht es nicht einen Sinn, so könnte man fragen, Menschen auf ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten? Auf die Rollenzuweisung kommt es an, würde Beauvoir antworten: die Männer schreiben der Frau vor, "die Rolle des Anderen zu übernehmen". Sie soll das passive Objekt sein, das den Mann in seinem Subjektsein bestätigt und bestärkt, ohne selbst einen Anspruch auf Wechselseitigkeit und Anerkennung zu stellen. In ihrem Werk "Das andere Geschlecht" beschreibt Beauvoir die Konsequenzen, die für die Frauen daraus entstehen. Weit davon entfernt, ein Komplementärverhältnis gleichberechtigter Partner zu sein, die sich in ihrer Verschiedenheit ergänzen, stellt sich das Geschlechterverhältnis vielmehr als ein Herrschaftsverhältnis heraus. Der Mann hat nicht nur die Verfügungsgewalt über die Frau, er hat auch die Definitionsmacht: er bestimmt, was und wie "Frau" zu sein hat. Erzählungen und Mythen werden in Umlauf gebracht, die das Ewigweibliche festlegen. Beauvoir schreibt, wie erschüttert sie war, als sie im Alter von 39 Jahren, im Zuge ihrer Recherchen zum Buch "Das andere Geschlecht", entdeckte: "Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen." Menschsein und Mannsein wird gleichgesetzt, ein Sachverhalt, der sich auch sprachlich manifestiert.

Gibt es auch für die Frauen eine Möglichkeit, sich als Menschen zu realisieren? Wie kann ein Mensch sich im Frausein verwirklichen? Das sind zentrale Fragestellungen für Beauvoir. Sie fordert die Frauen auf, ihre "eigenen Kleider zu schneidern" und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie müssen ein eigenständiges Selbstbewusstsein erlangen und ein entsprechendes Selbstwertgefühl entwickeln, ein gar nicht so leichtes Unterfangen, bei der jahrtausendealten mehr oder weniger offenen Unterdrückung und Abwertung gegenüber Frauen. Funktionieren kann das alles jedoch nur, wenn sich auch die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Die Familie, die Beauvoir als ein Relikt aus feudalen Zeiten ansah (der Name Familie leitet sich von lat. famulus, der Diener ab, stellte also ursprünglich die Gesamtheit der Dienerschaft dar), müsste durch neue Formen von Partnerschaft ersetzt werden. Die Verantwortung für die Kinder dürfte nicht allein auf den Schultern der Frauen lasten. Die Arbeitswelt müsste den Menschen Gelegenheit zur Selbstverwirklichung geben und dürfte den Menschen nicht nur als Mittel zum Zweck reiner Gewinnmaximierung sehen. "Erst wenn die Versklavung der einen Hälfte der Menschheit mitsamt dem verlogenen System, das dazugehört, einmal abgeschafft ist", schreibt Beauvoir am Ende von "Das andere Geschlecht", "wird die, Unterteilung' der Menschheit ihre authentische Bedeutung offenbaren". Wenn die Menschen einander partnerschaftlich begegnen, wird sich zeigen, was es bedeutet, von Mann und Frau zu sprechen und ob es dieser Differenzierungen überhaupt noch bedarf.

Beauvoirs Hoffnungen lagen in einer sozialistischen Welt, in der die notwendigen Rahmenbedingungen für die Realisierung individueller Lebensentwürfe zur Verfügung gestellt werden. Als sie sah, dass der Sozialismus nicht automatisch die Frauenfrage lösen würde, schloss sie sich in den 1970er Jahren der Frauenbewegung an. Auch in ihrem Spätwerk, "Das Alter", in dem sie sich ähnlichen Fragen stellt, nämlich "wie ein Mensch sich im Alter verwirklichen" und damit sein Menschsein realisieren könne, bleibt sie wachsam gegenüber allen Versuchen, den Menschen zu instrumentalisieren.

Im Kapitalismus sieht sie eine große Gefahr: "für das Menschenmaterial interessiert man sich nur insofern, als es etwas einbringt. Danach wirft man es weg." Der Kapitalismus ist eine große Maschinerie, die Menschen zermalmt, wobei die Menschen sich zermalmen lassen, weil sie sich nicht einmal vorstellen können, dass sie entrinnen können. Wie bei den Frauen, wird auch hier etwas als Naturgegeben hingestellt (diesmal der Markt), gegen das es keinen Sinn hat, sich aufzulehnen.

Mythos "Powerfrau"

Beauvoirs Antinaturalismus ist aktueller denn je. Verstärkt können wir die Tendenz feststellen, menschliche Verhaltensweisen zu naturalisieren: seien es nun die Gene, durch die wir angeblich festgelegt sind oder seien es die Marktmechanismen und die damit verbundenen Zwänge. Überall macht sich Ohnmacht breit, etwas wogegen Beauvoir zeitlebens angekämpft an. Sie forderte Engagement, Mut und Wachsamkeit, denn "die Freiheit wird niemals etwas Gegebenes sein, sondern muss stets errungen werden". Auch darin zeigt sich ihre Aktualität: bereits als selbstverständlich angesehene Errungenschaften, wie die Emanzipation der Frau im Sinne der Herausgabe der Frau aus der Verfügungsgewalt des Mannes werden durch Islamismus und Fundamentalismus in Frage gestellt.

Aber auch an einer anderen Front lauert Gefahr: statt des alten Mythos der Weiblichkeit, der die Frau zu einem passiven, hingebungsvollen Objekt für den Mann machte, ist der Mythos der Powerfrau entstanden, die alles unter einen Hut bringt. Gerade in Österreich, wo mehr oder weniger subtile Abwertungen und strukturelle Benachteiligungen von Frauen nach wie vor an der Tagesordnung sind, führt dies in Verbindung mit der noch tief sitzenden Rabenmutterzuweisung zu Überforderung und Frustration.

Sinkende Geburtenraten und steigende Armutsgefährdung von Frauen mit Kindern sind nicht die Folge eines Werteverfalls, vielmehr sind sie Ausdruck eines Wertewandels. Auch hier ist Beauvoir aktueller denn je: nur die Förderung partnerschaftlicher Lebensmodelle (auch im Sinne gleichgeschlechtlicher Partnerschaften) in Verbindung mit der Schaffung entsprechender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen kann dazu führen, das alte, nicht mehr funktionierende Familienmodell zu ersetzen. Die skandinavischen Länder sind dafür seit vielen Jahren ein Vorbild. Eine (Neu)Lektüre Beauvoirs wäre auch aus dieser Sicht erstrebenswert.

Die Autorin ist Lektorin am Institut für Philosophie an der Universität Wien und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Axiologische Forschungen.

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