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Wandlung im französischen Existentialismus?

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Drei Jahre sind seit der Befreiung Frankreichs verstrichen. De Gaulle, der erste „resistant“ und Unterzeidiner des französisch-sowjetischen Freundschaftspaktes von 1945, und Thorez, sein ehemaliger Innenminister, sind zu schärfsten Antagonisten geworden. Nicht nur dieses Wiederauftreten vorübergehend latent gewesener politischer Spannungen zeigt, wie sehr sich die psychologische Situation der Franzosen im Verlauf dieser drei Jahre verändert hat. Auch im Geistesleben hat diese Entwicklung sich deutlich abgezeichnet, und es mag deshalb ein gleiches Symptom der Zeit sein„ daß auch der Existentialismus, der, obwohl die erste Sensation seines Auftauchens vorüber ist, eine unvermindert bedeutsame Rolle im französischen Geistesleben spielt, eine beträchtliche Wandlung durchgemacht hat.

Der Existentialismus, der seine Verkörperung insbesondere in der Philosophie Jean Paul Sartres findet, hat neben sämtlichen anderen zeitgenössischen existenzphilosophischen Richtungen eine kaum mehr vergleichbar breitere Wirkung erzielen können. Von gewissen Einflüssen in der modernen protestantischen Theologie vielleicht abgesehen, ist es aber den deutschen Existenzphilosophen nie gelungen, gegenüber dem die allgemeine Geisteshaltung beherrschenden idealistischen Gedankengut neukantianischer Prägung sowie den jüngeren biologischen Anthropologien mehr als gelehrte Anhängerschaft zu gewinnen. Ebensowenig konnten sich etwa die Denker einer katholischen Existenzphilosophie gegenüber dem Neothomismus durchsetzen. Man wird deshalb versucht sein, die Gründe für Sartres Erfolg auch auf anderem als nur philosophischem Gebiet zu suchen. In der Tat scheint hier sofort ein Kennzeichen auf, das den Sartreschen Existentialismus wesentlich etwa voa dem Heideggers trennt, nämlich die Stellung des Anspruches auf weltanschauliche Geltung. Sartre ist weit in Literatur und Presse, auf die Bühne, in den Rundfunk und selbst in den Film vorgedrungen. Mag man vor allem im letzteren typische Modeerscheinun-gen erblicken, wird man doch nicht bezweifeln dürfen, daß, wenn auch das System als Ganzes kaum überleben dürfte, manche Gedankengänge und Anschauungsweisen im Denken breiter Schichten der französischen Intelligenz weiterwirken werden. Diese Vermutung wird noch bestärkt, sobald wir uns den politisch-soziologischen Ursachen von ^artres Erfolg zuwenden.

Die erste Philosophie Sartres, niedergelegt vorwiegend in seinem Erstlingswerk „La Nausse“ (Der Ekel) und in „L'Etre et le Neant“ (Sein und Nichts), ist tatsächlich jenes Bekenntnis der Hoffnungslosigkeit und der Sinnleere des Lebens, als welches der Existentialismus außerhalb Frankreichs bekanntgeworden ist. Das Echo, das er gefunden hat (und vielleicht seine Entstehung überhaupt), finden ihre Erklärung in dem wohl außerhalb Frankreichs kaum nachfühlbaren Erlebnis der Niederlage von 1940 und eines damit im Zusammenhang stehenden seelisch-geistigen Bankrotts. Das „neant“ wurde zum Symbol des zusammengebrochenen Frankreichs. Die Befreiung kam, aber gerade sie brachte es weiten Kreisen des geistigen Frankreidis klar zum Bewußtsein, jenseits der wiedergewonnenen Freiheit alles verloren zu haben. So stand Sartres Philosophie von der mensdilidien Freiheit im Angesicht eines metaphysischen Nichts vor ihnen wie ein großer, tragischer Rechenschaftsbericht ihres eigenen Selbst.

Der Existentialismus ist eine atheistii c h e, richtiger gesagt, ein völlig agno-stische Philosophie. Sie beginnt mit dem Menschen, bezieht und relativiert alles auf und durch diesen: das Dasein (die Existenz) geht dem Sosein (der EsSenz) voran, das heißt wir finden uns vor in der Rätselhaftigkeit unseres Daseins (Geworfen-heit). Wir erkennen, daß wir sind, bevor wir erkennen, was wir sind. Da es nun keinen Gott gibt, der den Menschen wesentlich erschaffen hat, oder wir einen solchen zumindest nicht erkennen, ist der Mensch nur das, als was er sich selbst begreift. Indem er sich nun als existierend begreift, ist er das, was er als Existierender sein will. Denn er existiert ja nur insofern, als er ununterbrochen handelt und seine Handlungen zu entscheiden genötigt ist. Der Mensch ist deshalb voll verantwortlich für sein ganzes Leben. Er kann diese Verantwortung nicht abwälzen, denn er entscheidet alles, was er tut, ga«z allein. Alle moralischen und ästhetischen Werte bestehen nur aus menschlicher Entscheidung für sie. So lebt der Mensch in der währenden Angst des Entscheidens und seiner Tragweite. Er ist verdammt dazu, völlig frei zu sein. Er gestaltet seine Zukunft allein, ohne deshalb je anderes als doch nur ganz bestimmte Möglichkeiten vorzufinden, verzweifelt, weil er keinen Halt hat außer sich selbst und auf nichts zählen kann als auf die Tatsadie, daß alle gleich frei sind wie er. Dies sind in Kürze die Hauptgedanken der ersten Philosophie Sartres: eine restlose Zertrümmerung aller Idole und Götzen — nach der Leugnung Gottes.

Darf auch die Weiterentwicklung dieser Philosophie eigentlich im Lichte des Geschehens der Zeit verstanden werden? Es soll nicht behauptet werden, daß Sartre für Frankreich schlechthin repräsentativ ist, aber zweifellos ist er es für das geistige Erbe des französischen Liberalismus und seiner politischen Spielform, den Radikalsozialismus, deren zeitgemäßer Erneuerer zu sein* ihm übrigens von seinen marxistischen Gegnern vorgeworfen wird, die ihn deshalb als „Reaktionär“ brandmarken. In dem, was heute in Frankreich seit dem Erscheinen von „Les Chemins de la Liberte“ .(„Die Wege der Freiheit“) als seine „zweite“ Philosophie bezeichnet wird, entdeckt Sartre eine neue Tragweite der menschlichen Verantwortung. Die Verantwortlichkeit des einzelnen gegenüber der Gesamtmenschheit. Jede Handlung ist eine Wahl, durch die der Mensch bestimmt, was er sein will, aber diese Wahl schafft stets gleidizeitig ein Bild des Menschen schlechthin als das, was er sein soll. Die individuelle Entsdieidung hat beispielhaften Charakter für alle. Sie ist nicht nur für uns, sondern allgemein wertschöpferisch, denn nur durch unsere Handlungen wird ja festgelegt, was gut ist. Wir sind deshalb in der Entscheidung nicht nur für uns verantwortlich, wir handeln gleichzeitig als Gesetzgeber der anderen, und unsere Angst gilt ebensosehr unserem Entsdieiden — Müssen als dessen Exemplari-tät —, gleichgültig, als ob wir uns etwa darüber hinwegtäuschten. Der Begriff der Verzweiflung erscheint in folgendem modifiziert: Es heißt, daß wir auf nichts rechnen dürfen als auf eine Summe von Wahr-scheinlidikeiten im Bereiche des Möglichen, daß wir ohne Hoffnung handeln müssen. Nur die Handlung aber hat Realität: Der Mensch ist sich alles; die ganze Zukunft liegt in seiner Aktivität beschlossen. Neben diesem betonten, dann im konkreten Fall oft sehr politischen Aktivismus unterstreicht Sartre nunmehr die Universalität des Menschen. Diese gibt es für ihn -freilich nicht dem Wesen nach, sondern nur als soldie der „menschlichen Grundsituation“, die er mit „in der Welt sein, hier unter anderen leben, arbeiten und sterben“ definiert. So verwirklicht sich der Mensch darin, daß er sich aus der Subjektivität heraus eine Aufgabe setzt, der er sich durch seine Wahl verpflichtet und in deren Erfüllung er diese Subjektivität ständig überschreitet (da er exemplarisch handelt), die Freiheit um der Freiheit willen wollend.

Der Existentialismus ist keine wegweisende Philosophie in dem Sinne, daß er einen Rat zu geben hätte; er ist eine aufrüttelnde, zur Besinnung rufende Stimme im Geisterchor unserer Zeit. Seine Rück-wendung von der reinen Philosophie des Nichts zu einer Lehre der Verantwortlichkeit ist ein Suchen, dessen Richtung noch nicht feststeht. Man könnte versucht sein, nach dem geistesgeschichtlichen Entweder-Oder dieses Suchens zu fragen: entweder es mündet in einen atheistischen Neohumanis-mus und hört damit auf, Existentialismus zu“ sein — oder es findet zurück zu Gott. Aber die Gottferne hat vielleicht einen tiefen Sinn. „Der Mensch muß sich selbst wiederfinden und überzeugen, daß nichts, und wäre es ein Gottesbeweis, ihn vor sich selber retten \ann“, sagt Sartre einmal. Vielleidit muß unsere 'Zeit den Menschen völlig entblößt und verloren sehen, um wieder offen zu werden für die Gnade. Vielleicht ist unsere Situation ein ungeheures Gleichnis vom Entweder-Oder der beiden Schädier am Kreuz.

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