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Von Marx zu Sartre

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Regierungsprinzipien und ideologische Strömungen sind schon lange in keinem größeren Gegensatz gestanden als heute. Während man da und dort die Demokratie durch Hinrichtungen und Konzentrationslager zu befestigen versucht, verbreitet sich in den westlichen Demokratien der Exi-stenzialismus, der wohl alles andere ist als eine demokratische Ideologie, wie eine Sturmflut. Seinen Erfolg verdankt er in erster Linie dem Gedanken, daß die menschliche Persönlichkeit das einzige Reale in unserer Welt darstellt und daß man daher auf der Suche nach einer neuen Lebenshaltung und einer neuen Gesellschaftsethik nur von der menschlichen Persönlichkeit ausgehen kann. Aus dem fieberhaften Umsichgreifen dieser Bewegung, die vor allem mit dem Namen des französischen Schriftstellers Jean Paul Sartre verbunden ist, wäre also zu schließen, daß beachtenswerte Strömungen gegen eine Entwicklung der Welt in betont kollektivistischem Sinne vorhanden sind. Es ist möglich, daß die eigentlichen Träger dieser Strömungen, wie es die Kommunist* behaupten, jene bürgerlichen Intelligenzschichten sind, die mit der demokratischen Doktrin das kapitalistische Wirtschaftssystem hochhalten. So würde Sartre als Entlarver der Demokratie wirken. Zugleich setzt er sich durch seinen stolzen Neo-humanismus in den schärfsten Gegensatz zur marxistischen Geseüschaftslehre. Die Verwirrung in den geistigen Fronten, die durch den Sartreschen Existenzialismus ausgelöst wird, bietet ein Schauspiel, das man grotesk nennen könnte, wäre es nicht gleichzeitig ein Symptom der metaphysischen Angst, in der unsere Generation lebt.

Unter den Quellen dieser Angst nimmt wohl die erste Stelle das ideologische Vakuum ein, welches sich seit dem Kriege dadurch fühlbar macht, daß sich die politisch-ökonomische Entwicklungstheorie des Marxismus als nicht mehr anwendbar auf die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse erweist, daß der Glaube an- die Weisheit einer höheren Weltordnung durch die unermeßlichen Leiden und Schrecknisse während des Krieges und seine Nachwirkungen in schwachen Geistern eine schwere Erschütterung erfahren hat und daß die Demokratie weder der materialistischen Unerbittlichkeit des Bolschewismus noch dem eben niedergerungenen faschistischen Aktivismus eine mit revolutionärer Dynamik geladene Idee entgegenzusetzen vermag. Es ist wohl keine Fehldiagnose, wenn man den abendländischen Menschen heute als politik- und staatsmüde bezeichnet. Schon nach dem ersten Weltkriege sind Anzeichen dieser Politik- und Staatsmüdigkeit in England und Frankreich wahrnehmbar geworden. Diesem nun stärker hervortretenden Zuge des abendländischen Menschen kommt der Sartresche Existenzialismus vor allem dadurch entgegen, daß er die menschliche Persönlichkeit in den Mittelpunkt seiner Lebensanschauung stellt. Daß er aktivistisch ist, an die Verantwortung des einzelnen appelliert und einen mechanischen Sozialismus durch einen geistigen ersetzen will, führt ihm in Frankreich viele Anhänger, besonders in der Jugend, zu. Zweifellos sind die Sartreschen Gedankengänge geeignet, revolutionär zu wirken. Der Streit, der um Sartre entstanden ist, besteht jedoch darin, ob er als Linksrevolutionär oder als Rechtsrevolutionär anzusehen sei. Er selbst scheint als Linksrevolutionär gelten zu wollen, dagegen wird er von allen jji marxistischen Doktrinarismus befangenen Kreisen bezichtigt, er sei der Schrittmacher einer neuen Rechtsrevolution. Tatsache ist, daß seine Theaterstücke auf deutschen Bühnen begeisterte Aufnahme finden, während einzelne von ihnen in England verboten worden sind.

Wenn sich heute in Europa drei große ideologische Fronten unterscheiden lassen: die des unbedingten Vertrauens in die unter allen Umständen heilsamen Wirkungen der parlamentarischen Demokratie mit freihändlerischer Tendenz, die christliche Front, die eine Durchsetzung der Politik mit den Prinzipien der christlichen Ethik fordert und sich die sozial-reformatorischen Grundsätze der Kirche zu eigen macht, und die Front des marxistischen Sozialismus, so läßt sich über das Verhältnis des Sartreschen Existenzialismus zu diesen drei Fronten zunächst nichts anderes aussagen, als daß er sich als eine von ihnen allen wesentlich verschiedene vierte Front darstellt, ohne die Absicht, zu einer von ihnen in eine schärfere Opposition zu treten als zu den anderen beiden, und noch weniger mit der offenkundigen Neigung, sich an die Spitze einer der drei Fronten zu setzen. Allerdings erklärt Sartre, daß er sein letztes politisch-philosophisches Wort noch nicht gesprochen habe, und wie dieses schließlich ausfallen wird, mag wohl von dem Echo in den breiten Anhängerschichten und von' der weiteren Entwicklung der weltanschaulichen Gegensätze abhängen.

Soviel man sich auch in Frankreich mit dem Existenzialismus beschäftigt, so hat er doch bisher auf das politische Leben dort nicht im geringsten abgefärbt. Dieses spielt sich sozusagen auf einer anderen Ebene ab, und das ist' überhaupt charakteristisch für die Kluft, die heutzutage zwischen Politik und Geist besteht. Darin mag man auch eine der Ursachen der Unruhe in der öffentlichen Meinung Frankreichs erkennen. Nur in Frankreich? Die politische Formulierung des Existenzialismus steht noch aus, aber sie wird nicht lange auf sich warten lassen. Denn das ist ja das Kennzeichen aller geistigen Revolutionen, daß sie sich im Sturmschritt auch der Politik bemächtigen. Die große Frage, die nun die französische Jugend in Atem hält, ist diese: Wird der Existenzialismus Marx oder Lafayette begraben? Wird er eine neue Form des Sozialismus bringen oder die Demokratie revolutionieren?

Bei dem Versuche, die politische Wirkung des Sartreschen Existenzialismus vorauszu-bestimmen, darf man die starke Stellung nicht übersehen, die der ehrwürdige Georges Bernanos in der geistigen Welt Frankreichs einnimmt. In seiner „Lettre aux Anglais“ (Gallimard 1946) schreibt er — und in diesen Worten erscheint er wie ein Wegbereiter Sartres —: „Daß die menschliche Gesellschaft den Eindruck macht, sich in der Richtung einer Art von universellem Kollektivismus zu entwickeln, stelle ich nicht in Abrede, aber das geschieht nur, weil die Kräfte zu einer Verteidigung der menschlichen Person wie von Grauen gelähmt sind. Allein deshalb bestehen sie doch immer; ihre Reaktion wird blitzartig sein. Und wessen bedarf es, sie zu entfesseln? Des leidenschaftlichen Willens einiger Tausend stolzer und freier Menschen.“ Indessen hat die angelsächsische Demokratie keinen Anlaß, aus einer solchen Sprache die Hoffnung zu schöpfen, daß ihre Bäume demnächst in den Himmel wachsen werden. Denn derselbe Bernanos sagt an einer anderen Stelle seines Buches, indem er voll tiefen Kritizismus Roosevelt apostrophiert: „Die Demokratie steht der Erklärung der Menschenrechte nicht näher als die klerikale Diktatur des Generals Franco dem Evangelium.“ Er geht so weit, zu sagen, Demokratie sei die politische Form des Kapitalismus, der die Demokratie allmählich seinen Bedürfnissen entsprechend umgewandelt habe. Zugleich warnt Bernanos -das gegenwärtige Geschlecht vor der Gefahr, daß Sozialisten und Demokraten, wie sie sich auch verschieden gebärden mögen, darin einander in die Hände arbeiten, daß sie dem Staate alle

Macht zuspielen. Der erste Friede nach 1918 sei eine Mausefalle gewesen im Vergleich zu dem jetzigen, der eine Elefantengrube sein werde. Wenn die Dinge so weiter gingen, werde die abendländische Menschheit den totalitären Halbgöttern nur deshalb entronnen sein, um auf den Vogelleim der anonymen Diktatur hineinzufallen.

Bernanos erwartet wie Sartre die Wiedergeburt nur aus der menschlichen Persönlichkeit, aber — zum Unterschied von Sartre — aus dem mit Gott aufs innigste verbundenen Menschen. Bernanos sagt: Der Mensch ist Gott verantwortlich, Sartre: Der Mensch ist für Gott verantwortlich. Für Bernanos sind die unverrückbaren Grundsätze der Ethik gegeben und er ruft den einzelnen Menschen nur auf, damit er sie verwirkliche. Sartre verlangt vom Menschen, daß er eine neue Ethik schaffe. Sartre ist, wenn seine Wirkung heute auch weit über die Grenzen Frankreichs hinausgreift, in seinem Wesen Nur-Franzose. Bernanos ist im besten Sinne Europäer, ein Europäer, der Europa glühend liebt und den Glauben an Europa nicht aufgegeben hat, wie so viele. „Lieber Herr Roosevelt“. schrieb Bernanos im September 1941, „hören Sie doch nicht auf die Ökonomisten, die Sie mit ökonomischen Argumenten vermutlich zu überzeugen versuchen, daß Europa am Ende seiner Kräfte ' sei. Sagen Sie sich lieber, daß Europa am Ende von Illusionen und Lügen angelangt ist. Die Ökonomisten bilden sich ein, verhungerte Völker seien unfähig, etwas zu träumen oder etwas zu begreifen. Welcher Irrtum! Die vollgefressenen Völker sind es, die auf dem Bauche schlafen und ohne Traum.“

Wenn man den weiten Kreis der französischen Geister von Andre Gide bis Jean Paul Sartre überblickt, gewinnt man den Eindruck eines gewaltigen Aufstandes gegen den Leviathan Staat. Dieser Aufstand ist zugleich auch eine Revolte gegen den Marxismus. Die Ablehnung der marxistischen Theorie reicht bekanntlich heute bis tief in sozialistische Kreise hinein. Wenn nicht alles trügt, nähert sich die Zeit für die gereifte Erkenntnis, daß der marxistische Sozialismus nichts anderes ist als ein Kapitalismus mit umgekehrten Vorzeichen.

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