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Ein Kampf für den Menschen

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„Bernanos hat für den Menschen gekämpft. Gegen alles, was in der modernen Welt und Kirche das volle, gesetzte Maß des Menschen offen oder verborgen bedroht, steht er auf.“ Mit diesen Worten eröffnet Hans Urs von Balthasar seine „Studie“ über Georges Bernanos. Dieses Buch ist aber mehr als eine „Studie“ und ist mehr als eine sehr gewissenhafte Arbeit über das Denken des großen französischen Romanciers und Publizisten, obwohl sie sich äußerst behutsam dessen Gedanken anschmiegt, oft ganz zurückzutreten scheint hinter dem Werk dieses Mannes, das hier zu einer Selbstaüssage und Selbstdarstellung gebracht wird, wie noch nie zuvor — auch im französischen Schrifttum „über“ Bernanos nicht. Hier werden Beiträge zu einer Lehre vom Menschen, zu einem Wissen vom Menschen in der Zeit, in der Welt und Kirche vorgelegt, an denen niemand vorübergehen kann, der heute wirklich etwas wissen möchte von Größe, Versuchung,Strahltiefe des Menschen, dieses unbekannten Wesens, das, wie die Kirchenväter sagen, capax dei ist: fähig, Gott zu „fassen“, fähig, sich zu wager. in einem Maße, wie es ängstliche und enge Christen und „Idealisten“ nie für möglich halten wollten. Balthasar, zurückhaltend mit eigenen Urteilen und Meinungsäußerungen, bekennt doch, schlicht und sehr fest, im Vorwort: „Man beklagt es daß die schriftstellernden Theologen sich heute zuviel um die Dichter kümmern, statt ihr eigenes Handwerk zu treiben. Aber einmal hätte ich dieses Buch nicht geschrieben, wenn jemand anderer es getan hätte (der Kritiker möchte hier einfügen: wenn ein anderer das so könnte), und sodann könnte es sein, daß bei den großen katholischen Dichtern mehr originales und groß und in freier Landschaft wachsendes Gedankenleben sich findet als in der etwas engbrüstigen und bei kleiner Kost genügsamen Theologie unserer Zeit.“ Es gibt wenige Zeugnisse zeitgenössischer Theologen, die, wie dies hier, dem christlichen Laien, und insonderheit dem Dichter, bescheinigen, daß er, ein neuer Kolumbus, in seinem harten, schweren Erdenleben ausgefahren ist, um für die ganze Kirche, Welt und Menschheit Länder zu entdecken, die vergessen, die verschollen, die nicht einmal geahnt werden von der Schulbuchtheologie. (Soeben hat Karl Rahner in einem Sammelband seiner theologischen Studien darauf hingewiesen, daß die Lehrbücher katholischer Theologie seit 200 Jahren fast unverändert ein statisches und karges Schulwissen tradieren, das reiche und riesige Räume der Wirklichkeit ausklammert, überschweigt oder mit billigen Formeln zu überherrschen versticht.) Die spanischen Mystiker in der Zeit der Großen Teresa von Avila nannten, in bewußtem Gegensatz zu den hektischen Taten der Eroberer, die von ihnen im Innersten, in der tiefsten Innendimension des Menschen, im muy muy anterior erkundeten Lande „las Indias de Dios“, die Neue Welt/ die unbekannten Kontinente Gottes im Menschen! Diese zu erkunden, fuhr Bernanos aus. Bernanos geht es um den Menschen. Um nichts -anderes, als um den Menschen. Er entlarvt alle Theologien, die sich nicht um den ganzen Menschen kümmern, als' dünnflüssige Ideologien. Der Mensch ist der Schauplatz und das Kraftfeld der Weltgeschichte: im Menschen und um den Menschen kämpfen Gott und Teufel, und der Mensch kämpft mit, schweigend, verbissen, jubelnd, knirschend, rebellisch, gehorsam, demütig, fluchend, betend .'.. ; als „Atheist“ und Christ; immer als Zeitgenosse, gebunden in die Grenze seines Volkes, seines Standes, seiner Partei, seiner Angst. Dafür ist Bernanos selbst Zeuge. Seine Wirkliche Größe — die Balthasar sehr klar aufzeigt („Wir schwärmen nicht für Bernanos, aber wir Wissen um seinen Rang“) — realisiert er in der Art, in der er den Raum innerhalb seiner Grenzen ausmißt, und für seine Fehler und Grenzen bezahlt mit der einzigen gültigen Währung, mit einem unsäglichen . Schmerz. Der junge Bernanos ist ein fanatischer, eigenwilliger Vorkämpfer der rechtsradikalen „Action Francaise“; eine gewisse Ueber-spitzung in politischen Urteilen wird ihn sein Leben lang an die Fixierung seiner Jugend und frühen Mannesjahre gemahnen. Bernanos ist ein Franzose (die vermutete spanische Herkunft hat sich als unrichtig erwiesen, sie würde sein Franzosentum nur noch schärfer akzentuieren, viele der französischesten Franzosen sind Spanier ihrer Abstammung nach — das gilt nicht erst seit Ludwig XIV.); ein Franzose bis in die letzte Ader seines Gehirnes und seihes Herzens hinein: seine Liebe zu Gott und zu den Menschen ist bis in die letzte Falte seines Atomkerns hinein durchströmt, „tangiert“, würde Paracelsus gesagt haben, von seinem Franzosentum. In Brasilien, in Nordafrika, in den zahlreichen kleinen „Nestern“, in die der rastlose und ruhlose Mann flieht — vor Paris, vor der ungeheuerlichen Prostitution dieser Zeit —/überall, Tag und Nacht, denkt er an Frankreich, das ihm ein Herzstück der Menschheit verkörpert. Diese innerste Bindung an sein Volk lähmt nicht seinen Blick für andere Völker, andere Menschen. Das Einfühlendste, menschlich Einfühlendste, was je vielleicht über Hitler und die nationalsozialistische Bewegung geschrieben wurde, schrieb dieser Franzose, mit Maritain der stärkste Kopf der Resistance im letzten Kriege im fernen Brasilien, indem zauberhaft schönen Buch „Les Enfants humilies“: als einen verdemütigten Sohn des deutschen Niedervolkes, als einen begabten Gescheiterten, dem vielleicht hohe Gnaden offenstanden, Sucht da Bernanos Hitler zu verstehen aus Jugenderlebnissen, von denen der französische Dichter damals nichts wissen konnte, die erst seit dem Nürnberger Prozeß weiteren Kreisen bekannt geworden sind aus den Aussagen von Freunden Hitlers. — Warum soviel hier über Bernanos und Hitler? — Bernanos wurde zeit seines Lebens .erschüttert, nicht nur fasziniert, durch Gescheiterte: gescheiterte Priester, die einen Abgrund von Bosheit in sich tragen, scheiternde Frauen, Mörder, Gewalftäter, Verbrecher. Bernanos läßt keinen Zweifel darüber, daß er Verbrecher und Gescheiterte nicht nur in Gestalten sieht, wie er sie selbst in seinen großen Romanen und in seinen merkwürdigen Kriminalromanen zeichnet, sondern daß er sie auch ersieht und erspäht in den gepflegten, freundlich und jovial aussehenden öffentlichen Herumstehern in Kirche, Staat, Weltpolitik. Ja, diese Typen der Scheiternden erregen ihn zutiefst: diese italienischen Bischöfe, die Mussolinis Bomber segneten, die am Karfreitag in Albanien einfallen und die aus Giftgaskanistern die abessinischen Menschen besprühen. Auch diese Fälle, denen er zahlreiche spanische „Fälle“ zur Seite stellt aus seinem eigenen Erleben im spanischen Bürgerkrieg, sind noch nicht das, was ihn am tiefsten verwundet. Am tiefsten versehrt ihn die „Dummheit“, die maßlose, Schreckliche Dummheit und dummdreiste Taubheit und Ueberheblichkeit so vieler Christen in allen Rängen der Hierarchie und in allen weltlichen und politischen Positionen, das Schweigen zu den ungeheuren Schändungen des Menschen allüberall auf dieser einen Erde, die es zuläßt, daß mitten unter ihnen und durch ihre Mitwirkung in Krieg, Bürgerkrieg, Mord, Korruption diese Schändung des Menschen sich noch immer mehr ausfalten kann, eine Krebsgeschwulst, die heute das Mark der Kirche und der Menschheit zerfrißt, so daß kaum mehr Widerstand gewagt werden kann, weil ihn die Christen selbst ersticken. Bernanos entschleiert eines der heute am ängstlichsten gehüteten Geheimnisse in der Kirche und in der Christenheit: die Tatsache, daß sich hinter der Fassade von immer mehr äußeren Gehorsamsbezeugungen an die Adresse Gottes, des Heiligen Vaters, der Kirche, ein ungeheuerlicher Aufstand, eine Rebellion der Gläubigen verbirgt, der Gläubigen, die sich aus der Bibel, aus der Wirklichkeit, aus den Enzykliken des Papstes herauslesen, was ihrer Angstoptik genehm ist Georges Bernanos ist zudem der Ueberzeugung, daß „die Unterschlagung der hohen und unentbehrlichen Funktion des Menschen, die sich Urteil nen'nt. mit zu Katastrophen führen kann . . Menschen, die daraufhin abgerichtet werden, blind zu gehorchen, werden plötzlich ebenso blind den Gehorsam aufsagen. Ohne Widerrede zu gehorchen, ist etwas anderes als gehorchen, ohne zu verstehen, und die totale Fügsamkeit ist gar nicht soweit von der totalen Revolte entfernt, als man denkt. Det christliche Gehorsam besitzt in seinem Wesen einen heroischen „Charakter“ (Chemin de !a Crbix des Arnes, P. 465, übersetzt von H. U. von Balthasar, S. 79). Es gehört zu den ergreifendsten Darstellungen dieses Buches, wie da Balthasar aufzeigt, wie Bernanos sich selbst durchkämpft Zu einem heroischen christkatholischen Gehorsam, zur Liebe zu eben jenen Gescheiterten und Scheiternden, zu den „Dummen“, den fast dämonisch Mittelmäßigen, den „Imbecilcs“, die die Kirche, Gott, ihre Mitmenschen zu terrorisieren versuchen mit ihren satten, überheblichen Gerichten, Urteilen und Handlungen; die alles vernichten wollen, was sich nicht ihrer kleinen, schäbigen Angst fügen will, was sich nicht ihrem kleinsten gemeinsamen Nenner anpaßt. Bernanos erhebt sich hier ganz groß: denn er ist ein Mann, ein Mensch der großen Angst. Angst durchbebt sein ganzes Leben — eine Angst, die ihn manchmal zu zersetzen, zu atomisieren droht, die ihm aber sich ausfaltet, ausreifend, zur großen Liebe zu seinen Mitmenschen, zu seinen Zeitgenossen. Wach, überwach, mitten unter diesen „kleinen Leuten“ im Cafe seine Romane schreibend, beobachtet er sie — diese seine große Angst öffnet ihm die Augen für das schrecklichste Schauspiel — auf wie vielen Wegen verspielen Menschen ihr Seelenheil — und für die beglückendste Erfahrung seines Lebens: für die Gemeinschaft der Heiligen. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, die Kirche als Lebensraum, in dem in schrecklichen Todeskämpfen, in Agonien, die Menschen geborgen werden hinein in die große Kommunion und Kommunikation alles Geschaffenen, im Himmel und auf Erden, in Natur-und Menschenwelt. Eine künftige Theologie des Atomzeitalters, die ihre Verantwortung erkennen wird müssen für die Betreuung der jeweils ganz andersartigen Milliarden Menschen, die nicht über einen Leisten zu schlagen sind, wird nicht vorbeigehen können an diesen Lebenserfahrungen des Georges Bernanos und an ihrer erstmaligen theologischen Aufbc eitung durch Hans Urs von Balthasar. Das ist wohl das Wertvollste an diesem Buch: es ist durch und durch ein positives Buch. Ein konstruktives (nicht ein konstruierendes) Buch schöpferischer Theologie: schöpferische Theologie heißt aber: gehorsam sein der Schöpfung, dem Schöpfer, der sich mitteilen will in und durch seine Geschöpfe. Die offenen Horizonte werden wie in der Weltpolitik so auch in der weltverantwortenden Theologie der Zukunft nur eröffnet werden, wenn dieser Gehorsam zur bedingungslosen Annahme der Worte Gottes in der Zeit, in unserer Zeit und in jeder Zeit vorhanden, wenn er täglich abgerungen wird dem Willen einer Selbstbehauptung Gott und den Mitmenschen gegenüber. — Balthasars Buch über Bernanos ist, zusammen mit seinen Studien über unsere Zeitgenossen Karl Barth und Reinhold Schneider (für wieviele unter uns sind diese Männer wirklich Zeitgenossen, mit denen wir im inneren Gespräch um echte Fragen und echte Antworten ringen?), eines.der wichtigsten Hilfsmittel auf dem Wege, den die europäische Theologie, als Lehre und Wissen vom Menschen, eben.erst zagend zu beschreiten beginnt: zur Anschauung und Erfahrung Gottes mitten im Menschen, mitten in den Ungnaden der Zeit, der Geschichte, des unsäglich geheimnisreichen, gefährdeten und begnadeten täglichen Lebens. Diese Theologie erweist sich eben in diesem ihrem ganz auf den Menschen bezogenen Charakter als eine echte Hilfe zu unserem Selbstverständnis — sie allein wird den Abgrund überbrücken können, der, wie Balthasar selbst mehrfach aufgezeigt hat, seit mindestens 700 Jahren Theologie und Heiligkeit, christliche Existenz und theologisches Schulwissen trennt, ein Abgrund, der größer und gefährlicher ist als der modische, vieldiskutierte Kathedergegensatz von „Glauben“ und „Wissen“. — Für Neuauflagen dieses erregenden Werkes wird es sich empfehlen, einzelne Textstellen aus „Bernanos“ zu überprüfen. Balthasar übersetzt Selbst alle Zitate aus „Bernanos“ für dieses sein Werk, so konnte es ihm bei dieser riesenhaften Arbeit (es geht wohl um einige tausend Zitate) passieren, daß einzelne Texte mit nicht unwichtigen Variationen verschieden übersetzt wurden (vgl. z. B. S. 79 uhd 519, die Uebersetzungen aus Chemin de la Croix des Arnes).

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