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Ein Epos der Angst

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Wir sind diesmal in der Lage, einen besonders wertvollen literarischen Beitrag zu bringen: die Besprechung jenes Szenarios, das Georges Bernanos auf Anregung des bekannten Paters Bruckberger nach,, Motiven des berühmten Romans .Die letzte am Schafott“ von Gertrud von Le Fort geschrieben hat. Die Besprechung hat auch dadurch Gewicht, daß sie von Pierre Emmanuel, einem der bedeutendsten katholischen Lyriker des heutigen Frankreich, stammt und über die kritische Leistung hinaus ein Denkmal des Verständnisses für Bernanos wurde. Wir leben in einer Zeit, da der Künstler hinter dem schreibenden Intellektuellen verschwindet. Die Wirklichkeit wird zum Problem: Romancier und Dramaturg suchen sich Personen, durch die sie es lösen können, und die Intrige ihres Werkes ist nichts als Beweis. Anders gesagt, das wirkliche oder romanhafte Dokument strebt danach, Oberhand über die Kunst zu gewinnen. Diese verderbliche Abstraktion bringt die Literatur in Gefahr, denn das Dokumentarische, so wahrheitsgetreu es auch sei, reißt niemals so sehr mit wie eine erfundene Geschichte, deren Personen, oft gegen den Willen des Autors, frei bleiben. Alle Personen Sartres zum Beispiel suchen ihre Wirklichkeit zu beweisen, ehe sie leben, und vielmehr anstatt zu leben: sie versinnbildlichen die Angst der Epoche, ohne sie am eigenen Leib zu erleiden.

Wir haben „Lej mains sales“ („Schmutzige Hände“) gelesen oder gesehen. Wir behielten davon den Eindruck eines ausgezeichneten Theorems, das von der Prämisse ohne logische Kluft zum Schluß schreitet. Und wie der Autor haben wir entschieden: 1 in einer bestimmten Situation sind dies die verschiedenen Möglichkeiten des Betragens. Aber die Evidenz hat unsere Not nicht zerstreut, vielleicht, weil wir diese Evidenz in unserem Innern ablehnen. Wir wünschen uns von der mathematischen Strenge der Geschichte zu befreien: wir wollen, daß sich dieses Problem uns stelle, und nicht nach der von nun an durch so viele „Zeugnisse“ festgelegten Norm, von Koest-ler bis Kravchenko. Dies ist freilich nicht möglich, es sei denn, man nimmt an, daß die Kunst das Gegebene überwindet, indem sie es in sich aufnimmt.

Jetzt aber liegen auf meinem Tisch die „Dialogues des CarmeMites“ (Editions du Seuil), Bernanos letztes Buch. Es ist die Geschichte der zur Zeit der großen Revolution hingerichteten Karmeliterinnen. Eine alte, von allen vergessene Geschichte: und uns doch näher als die Niederlage von 1940 in der Besdirei-bung Sartres. Ich lese das Buch in einem Zug; und zum erstenmal seit langer Zeit fühle ich diesen Schauer der Achtung, dieses instinktive Lobenmüssen, das ein Meisterwerk manchmal hervorruft. Dieses Buch ist schön, von ganz einfacher Schönheit: dies ist ein Drama, vor dem das ganze Claudeische Theater verblaßt. Warum? Weil das Drama der Angst — das Drama unserer Zeit — darin analysiert und überwunden wird, mit einer Kraft, die nicht die Pseudo-kraft des modernen Naturalismus ist, sondern die ewige Wahrheit der Kunst. Es. handelt sich nicht mehr darum, den Schein zu beschreiben, sondern die Bewegungen menschlicher Wesen so genau als möglich zu übertragen, die alle auf eine persönliche Art unter der Schicksalhaftigkeit einer Geschichte leiden, von der sie sich frei machen müssen. Für einen Bernanos ist die Geschichte ein Scheingefängnis: so schrecklich 6ie auch ist, die Erlösung des Menschen rührt von einer Freiheit her, die sie nicht einschließen kann. Und Bernanos sagt'es, drängt es uns auf, in einer Sprache, die uns unsere Geschichte vermittelt. Die Wahrheit der Kunst liegt nicht in der banalen Sprache: sie liegt in der allen gemeinsamen Sprache, die alle verstehen können, weil ihre Schönheit ihre Seele ergreift, wo die Sprache des Tages nicht mehr ergreift. 'Die „Dialogue des Carmelites“ sind das Drehbuch eines Films. Es könnte — es wird bald eine Tragödie auf unserem Repertoire sein. Die Karmeliterinnen von Compiegne [Werden auf Grund eines Dekrets des Konvents zerstreut. In Abwesenheit der Oberin, eieren tiefe Frömmigkeit sich mit gutem Hausverstand verband, legen sie einstimmig das Gelübde zum Martyrium ab. Zurückgekehrt, nimmt die Oberin das von der Gemeinschaft ausgesprochene Gelübde auf sich. Bald werden sie verhaftet und sterben, das „Salve“ und das „Veni Creator“ singend, auf dem Schafott. Dies könnte eine Freske aus dem Leben der Heiligen sein: es wird zum Drama durch die Anwesenheit der Novize Blanche de la Force, einer jungen unter dem Zeichen der Angst geborenen Aristokratin, die sich zum Karmeliterorden flüchtete, um der Welt, vor der sie erschrak, zu entrinnen. Hier im Karmeliterkloster überfällt ie die Furcht stärker, eindringlicher als je zuvor. Sie ist in die Enge getrieben, muß ihr die Stirn bieten. Wie ihre Gefährtinnen stimmt sie dem Gelübde zum Martyrium zu: kaum ausgesprochen, begreift sie dessen Sinn und entflieht. Kein menschlicher Appell bringt sie zurück: sie 6türzt in Unehre, die, welche die Angst floh. Dennoch erhebt sich am Tag der Hinrichtung da6 „Veni Creator“, als es auf den Lippen der letzten Nonne verstummte, noch einmal aus der Menge, und man sieht Blanche auf das Schafott zuschreiten.

Lassen wir uns durch das Sujet dieses Dramas nicht irreführen: es ist aus unserer Zeit, für uns geschrieben. Unsere Zeit ist die der Angst: nicht nur die der Angst vor den Bomben, sondern einer hinterlistigeren, knechtischeren Angst, die man die Angst vor der Angst nennen könnte. Viele haben von nun an Angst für das, was sie wahrhaftig glauben einzustehen, weil sie vor den Gerichten von morgen als Angeklagte stehen könnten oder weil die Geschichte scheinbar die von ihnen verteidigte -Wahrheit widerlegen könnte. Bei anderen gibt es ein? noch subtilere Art der Angst, weil sie sich unfähig fühlen, bis zum Opfer durchzuhalten und im voraus fürchten, daß sie abschwören werden.

Von allen Seiten nützt man diese Angst aus; man gibt ihr den Namen der Vorsicht — und dies heißt die Vorsicht lästern, diese Kühnheit der Starken. Man lebt nicht mehr in der Gegenwart, sondern in der Zukunft, oder vielmehr in der fixen Idee der Zukunft. Man läßt sich lähmen von dem, was kommen könnte, was noch nicht da ist, aber um so zwingender wird, als seine Schreckenskraft imaginär ist.

Gerade diese Angst behandelt Bernanos; eine ganz persönliche Angst, die sich also erklären ließe: bin ich sicher dessen, was ich glaube würdig zu sein? Nein: ich bin nichts weniger als sicher. Ist es nicht besser zu glauben und zu schweigen?

In Bernanos' Dramen gibt es Gestalten, deren Uberzeugung so stark ist, daß sie unbewußt wird und die sich ihretwegen nicht mehr beunruhigen: so Constance, die junge Novize, Blanches Freundin, für die jede Sekunde ein Augenblick des Glücks ist, weil Gott und nicht sie für die folgende Sekunde sorgt.

Es gibt Gestalten, die das Für und Wider abwägen, die wissen, daß sie fehlbar sind und es Gott anheimstellen, sie zu richten und zu prüfen, wenn die Stunde gekommen ist: das sind die erfahrenen Frauen, die keine Angst vor dem Sterben haben und immer an den Tod denken. Und dann Blanche: vom Schrecken, den sie vor der eigenen Freiheit empfindet, wird sie bis zu dieser Unentwegtheit ihrer Absicht getrieben, wo Mut und Angst gleichbedeutend sind; nicht sie, sondern Constance stimmt als einzige gegen das Gelübde; und doch ist sie es, die abschwört, ins Gemeine hinabsinkt, um sich zu retten.

Aber dem Menschen steht es nicht zu, Feigheit oder Mut zu beurteilen; im Augenblick der höchsten Entscheidung — der einzig wichtigen — liegt unsere Freiheit :n den Händen Gottes. Ist Blanche heroisch, weil sie ihren Gefährtinnen auf das Schafott folgt? Das steht nicht zur Debatte. Es verschwindet der Zeuge hinter dem eigenen Zeugnis. Es gibt Märtyrer, die litten und mit der schrecklichsten Angst im Herzen starben. Auch als Blanche die Stufen zum Schafott emporsteigt, verläßt sie die ihr seit der Kindheit innewohnende Angst nicht: trotz ihrer Zuflucht in Gott gelingt es ihr nicht, sie zu besiegen. Aber Gott wird diese Angst heiligen, sie als nacktesten Ausdruck menschlicher Schwäche hinnehmen: als dos kostbarste Geschenk, denn das Opfer dessen, der Angst hat, ist das letzte Wort menschlichen Opfers, ist Hingabe der Verzweiflung an die Hoffnung.

Dies ist Bernanos' Thema. Es ist gut, es ist wie ein antikes Drama zu lesen: mit dem Gefühl, daß sich diese Geschichte in uns täglich wiederholt. Auch wissend, daß das Epos der Angst ein für allemal geschrieben ist: und daß es gleichzeitig das Epos der Freiheit ist. Denn, wenn Blanche auch auf das Schafott steigt, geschieht das nicht allein durch die Kraft des Beispiels, sondern weil sie frei ist, ohne daß die Angst sie einen Augenblick verläßt, weil sie frei ist, diese Angst als die ihre auf sidi zu nehmen und ihrer dadurch Herr zu werden, sie gleichwohl bis zum Ende empfindend.

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