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GEORGES BERNANOS / SCHÖPFERISCHE ANGST UM DEN MENSCHEN

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Georges Bernanos (1888 bis 1948) starb vor zehn Jahren, erschöpft und zerarbeitet, am 5. Juli 1948 an Lungenkrebs. Charles Peguy, der erste große Erwecker des französischen Katholizismus, Sohn einer Korbflechterin aus Orleans, wäre vielleicht verhungert, wenn er nicht in der Marne-Schlacht gefallen wäre. Bernanos, Sohn eines Tapezierers, der zweite große Rufer zur Wachheit in der Christenheit, ist ver-' hungert: an Mangel an Sauerstoff. An Sauerstoff für die Seele. Bernanos spürte tödlich schmerzhaft, wie der Welt, in der er leben mußte, der Sauerstoff ausging: die Luft der Freiheit. Verzweifelt, fast verzweifelt (Bernanos definiert den Christen als einen Menschen, „der verzweifelt für die Hoffnung kämpft“), rang er um Freiheit: um Freiheit des Menschen in der Kirche und in der politischen Gesellschaft. Sonst hatte er keine Sorgen. Diese eine Sorge rüttelt und schüttelt ihn, befruchtet ihn, wie ein Sturmwind den Acker, reißt ihm seine Früchte, seine Werke, vom Baum seines Lebens, so daß jedesmal eine neue Wunde zurückblieb. Und wirft ihn aufs Totenbett, nachdem er bis zuletzt gekämpft hatte.

Sein Lebenslauf: Angst und Enge in Kollegien; Journalist, sehr weit rechts, im Paris vor dem ersten Weltkrieg; vier Jahre Soldat, Versicherungsagent. Sechs Jahre schreibt er da, in Wartesälen und Kaffeehäusern, seinen ersten großen Roman, „Die Sonne des Satans“. Kaum vierzigjährig, wagt er es, freier Schriftsteller zu werden. Nun beginnt ein Hungerdasein (Bezahlung: Seite für Seite, nach Ablieferung), mit sechs Kindern. Seine Frau stammt aus der Familie der Jeanne d'Are, der Jungfrau von Orlians, die, wie für Piguy, seine große Heilige, neben Therese von Lisieux, ist. Der Bürgerkrieg in Spanien leitet seine politische Reifung ein. „ Die großen Friedhöfe unter dem Mond“ sind eine einzige Anklage gegen die „Reaktion“. Diese vergißt nicht. In Brasilien steht der ganze Klerus geschlossen gegen ihn, nur ein deutscher emigrierter Priester, ein Ex-Berliner, betreut ihn, rettet ihn vor der völligen Verzweiflung. Heimgekehrt, nimmt er nochmals den Kampf auf, als politischer Publizist, für ein freies Frankreich, für eine freie Welt, für Christen.

Dieser von vielen Christen und Gegenchristen leidenschaftlich gehaßte Mann ist ein tiefkatholischer, ja kirchlicher Mensch. Seine Ueberzeugung ist: man reformiert die Kirche nur, indem man an ihr leidet. Seine Angst um die Kirche ist: sie lasse sich heute so weit mit den Mächtigen ein, daß sie nur mehr gleichgeschaltete gehorsame Schafe „produziere“, statt Menschen, die es wagen, für die Freiheit zu kämpfen. Seine Hoffnung für die Kirche ist: es wachsen Kinder, kleine, schwache, elende Kreaturen heran, in denen ein Geschlecht neuer Heiliger erscheint. Heilige, als Retter und Brüder alle* ihrer andersfarbigen Brüder, die sie nicht kennen, nicht anerkennen. Diese Menschen der wahren Freiheit tragen ihr Zeichen an der Stirn: Armut, Verfolgung, das Kreuz, die Liebe.

Die Werke des Georges Bernanos, der in Frankreich und andernorts viele Nachahmer, aber bis jetzt keinen Nachfolger gefunden hat (vielleicht, weil kaum ein anderer ein so exponiertes, gefährliches Leben gewagt hat; Denken ist ja nicht Glückssache, wie ein schlechtes Wort meint, sondern Leidenssache; nur existentieller Einsatz führt in seine Tiefen), teilen sich demgemäß in zwei deutlich unterscheidbare Gruppen, die doch eng zusammenhängen: durch seine große Angst um die Freiheit.

In der Gruppe der religiösen Romane (sein großer Gegner Paul Claudel hat ihm die Qualität eines Dostojewskij zuerkannt) stehen obenan das herrliche „Tagebuch eines Landpfarrers“, „Die Sonne Satans“, „Die tote Gemeinde“, „Ein Verbrechen“ und „Die neue Geschichte der Mouchette“. Kurz vor seinem Tod schreibt er die „Dialoge der Carmelite-rinnen“, dramatisiert als „Begnadete Angst“, in der sein eigenes Leben als permanente Agonie, Todesangst, schweißverzehrt, verklärt erscheint. Die Todesangst des Georges Bernanos ist eine entsetzliche Angst vor der Verwesung der Seele und des Leibes. Vor einem Sich-Verlieren in Abgründe des Nichts. Diese urfromme Angst, die er mit großen Führern des spirituellen Lebens in Frankreich, mit Condren und Berulle teilt, in manchem auch mit Pascal, ist zugleich eine eminent politische Angst: Angst vor dem Sichverspielen des Menschen, der schmatzend und rülpsend mit hundert „frommen“ Ausreden sich vor der Freiheit, und das heißt vor Gott und Mitmenschen, „drückt“. Und als Drückeberger ein grausamer Mörder und Selbstmörder wird.

So sehen ihn seine prophetischen politischen Schriften, „Die große Angst der Wohlmeinenden“, „Das Haus der Lebenden und der Toten“, „Wider die Roboter“.

„U e b e r“ Bernanos kann heute noch nicht geschrieben werden. Wer steht über seinem Leid, über seiner Angst, über seiner Hoffnung? Wohl aber ist es Zeit, in der Christenheit die Begegnung zu wagen, mit dem, was er erschaut hat.

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