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Alles ist Gnade

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Nach zwanzig Jahrhunderten Christentum, Himmeldonnerwetter, da dürfte es doch keine Schande mehr bedeuten, arm zu sein! Oder aber ihr habt euren Christus verraten! Ich komme davon nicht los. Herr Gott mal! Ihr verfügt doch über alles, was man braucht, um den Reichen zu demütigen und ihn auf Trab zu bringen. Die Reichen dürsten doch nach Achtung, je reicher sie sind, umso mehr.

Ihr hättet doch bloß mal den Mut aufbringen müssen, sie in die letzte Reihe hinten beim Weihwasserkessel zusammenzudrängen oder meinetwegen sogar aus der Kirche hinaus auf den Vorplatz, das hätte sie zum Nachdenken gebracht. Sie hätten allesamt nach der Armenbank geschielt. Ich kenne sie. Uberall sonst die ersten, aber hier beim Herrn die letzten, begreifen Sie das?

Oh, ich weiß sehr wohl, daß das nicht so einfach ist. Aber wenn es stimmt, daß der Arme Bild und Gleichnis Jesu ist, Jesu selbst, dann ist es unangenehm, ihn in das Chorgestühl klettern und alle Welt ein Gesicht sehen zu lassen, das zum Spott herausfordert und aus dem ihr seit zweitausend Jahren immer noch nicht vermocht habt, die Spuren des Angespucktwerdens zu tügen.“

Sätze, die der große französische Romanschriftsteller Georges Bernanos vor gut fünfzig Jahren, lange bevor es noch den Begriff der „Theologie der Befreiung“ gab, niedergeschrieben hatte. Er gibt sie in den Mund des Landarztes Doktor Delbende in seinem 1936 veröffentlichten Roman: „Tagebuch eines Landpfarrers“.

Der Landpfarrer, ein junger kränklicher Priester, den es nach Ambricourt in Flandern verschlagen hatte, trägt unverkennbar die Züge des heiligen Pfarrers von Ars, Johannes Vianney. Bernanos liebte vor allem die Heiligen der Armut.

Der Boden, den der Landpfarrer fürs Reich Gottes aufbrechen soll, ist denkbar hart: Er ist von jenem bürgerlichen Gleichmut und plakativ hohlen Katholizismus durchtränkt, der religiöse Pflichtübungen mit gläubiger Grundhaltung verwechselt.

„Die Hauptaufgabe der Kirche besteht darin“, so läßt Bernanos den Grafen von Ambricourt zum Landpfarrer sagen, „die Familie und die Gesellschaft zu schützen, sie verurteilt alle Übertreibung, sie ist eine Macht der Ordnung und des Maßes.“

In dieser Welt „der Ordnung und des Maßes“, in der Religion zum Nachtwächter der guten Sitten und zum Platzwart der Folklore verkürzt wird, in der der Glaube zur allfälligen Versicherung gegen einen möglicherweise doch existierenden Gott verkümmert, sind die „Aufrührer“, die „Verächter all jener gesellschaftlichen Vorrechte, die nicht auf dem Geist gegründet sind“, von vornherein suspekt.

„Gott bewahre uns vor den Neuerern!“ ruft der Dekan von Blan-germont, ein offenbar bequem gewordener Priester, aus. „Herr Dekan“, wirft der junge Priester ein, „dennoch sind viele Heilige Neuerer gewesen!“ Die Antwort des Dekans: „Gott bewahre uns auch vor den Heiligen!“

Denn: „Ganz gleich, was sie tun mögen, es besteht stets die Gefahr, daß ihre Reden, ihre Haltung, ja selbst ihr Schweigen den

Mittelmäßigen, Schwachen und Lauen zum Ärgernis werden.“

Bernanos, der einer jener Unbedingten im Geiste war, die mit dem Christentum so Ernst machen, daß sie an den Rand der Ketzerei geraten — wie ihn ein Rezensent der frankfurter Allgemeinen“ charakterisierte—.gehörte zu jener Generation inzwischen scheinbar ausgestorbener Literaten, die Theologie in Romanform betrieben hatten.

Die heute Fünfzigjährigen werden sich mit wehmütiger Nostalgie an Namen wie Paul Claudel, Gabriel Marcel, Francois Mauri-ac, Leon Bloy, Paul Valery, Charles Peguy, Hilaire Belloc, Julien Green, Giovanni Papini, T. S. Eliot, Clives Staples Lewis, Evelyn Waugh, Thornton Wilder, Bruce Marshall, Sigrid Undset, Edzard Schaper, Reinhold Schneider, Franz Werfel, Gertrud von Le Fort, Edith Stein und an Gilbert Keith Chesterton erinnern, von dem das Publikum leider nur seinen Pater Brown und weniger seine beiden Bekenntnisbücher „Orthodoxy“ und „Der Mann mit dem goldenen Schlüssel“ kennt.

Sie alle verband ein tiefes Wissen um jene Wirklichkeit, die der Landpfarrer von Bernanos kurz vor seinem Tod mit dem Satz ausdrückt: „Altes ist Gnade.“

Weil es weit und breit nichts Gleichwertiges, geschweige denn Besseres gibt, und weü es sich hier um Weltliteratur höchsten Ranges handelt, um genuin christliche Spiritualität in einer gepflegten Sprache verpackt, die der abscheulichen Abstraktion, der holprigen Sprache und der aufgeblasenen Spekulationssucht so manchen theologischen Wälzers ebenso entbehrt wie der Verkürzung der christlichen Botschaft auf Soziologie und Psychologie, wäre die „Relecture“ (das neuerliche Lesen) dieser Werke mit Hilfe von Neuauflagen dringend notwendig.

So mancher Literat und Intellektueller, den falsch aufgenommene Internatsfrömmigkeit und Kirchenekel zu den seichten Gewässern eines platten und seine geistige Hohlheit durch hochmütigen Snobismus mühsam bemäntelnden Zeitgeist abwandern ließ, könnte hier an den Ufern der geistigen Tiefenströmungen christlicher Intellektualität und Spiritualität genesen.

Zumal es sich um Bücher voller Leben handelt, um unser Leben, um unsere Probleme wie Kindheit und Tod, Liebe und Haß, Vertrauen und Verzweiflung, Sünde und Vergebung. Nur eben aus jener geradezu exklusiv gewordenen Perspektive- die Verzweiflung zu heilen und'egründete Hoffnung zu schenken vermag.

Wie schrieb Bernanos? „Unser Herrgott hat mir die Gnade erwiesen, daß ich das Leben liebe, das Leben, das die Dummköpfe durchrasen, ohne sich Zeit zu nehmen, es anzuschauen, das Leben voll wunderbarer Geheimnisse, die es für alle Menschen bereithält und nach denen nie jemand fragt.“

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