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Entscheidung der Vernunft

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„Es ist ziemlich gut gegangen", so kommentierte der britische Premierminister den eindeutigen Wahlsieg seiner Partei. Eine typisch britische „Uebertreibung“, könnte man sagen, und vielleicht auch ein wenig Pose, wie um anzudeuten, daß es keinen Grund gegeben hatte, einen ungünstigen Ausgang der Wahlschlacht zu befürchten. Es war aber mehr als das. Jene Worte charakterisieren Harold Macmillan als einen Manh, der maßzuhalten versteht und auch im triumphierenden Gefühl eines Sieges, den er mit Recht zu einem guten Teil seinem persönlichen Wirken zuschreiben darf, die Realität der Dinge ebenso nüchtern und klar im Auge behält wie in den sorgenvollsten Zeiten, die er am Steuer der Regierung erlebt hat. Macmillan kennt sein Volk wie kaum ein anderer unter den heute aktiven Politikern des Landes. Er weiß, daß es im Grund konservativ und extremen Lösungen abgeneigt ist; daß es bereit ist, auch schwerste Lasten auf sich zu nehmen und sich mit den unpopulärsten Maßnahmen abzufinden, wenn es von der Notwendigkeit einer solchen Belastung und solcher Maßnahmen überzeugt wurde; und daß nichts so geeignet ist, sein Vertrauen in die Regierung zu erschüttern als der Eindruck von Unsicherheit, Unruhe, Planlosigkeit an der verantwortlichen Stelle. Es schätzt Ruhe, innen- und außenpolitische Ruhe, sehr hoch; und es will mit ruhiger, behutsamer, aber auch fester n Hand geführt wetden.

Unter den achtzig konservativen Mandataren, die nun zum erstenmal im Palast von Westminster ihre Sitze einnehmen, sind sicher manche, die noch nicht zu solchen Erkenntnissen gelangt sind und versuchen werden, die Regierungspolitik im Sinne einer radikalen Ausnützung der neuerdings verstärkten konservativen Machtposition zu beeinflussen. Das wird aber den Premierminister bestimmt nicht davon abhalten, den bisher als richtig erwiesenen Weg weiter zu verfolgen und nur dort reformierend einzugreifen, wie durch die zuerst heftig bekämpfte, aber schließlich allgemein als gerecht und notwendig anerkannte Lockerung des Mieterschutzes und gewisse Einsparungen im staatlichen Gesundheitsdienst, wo es unerläßlich erscheint, um die schlimmsten Erbstücke aus der Zeit des Labour- Regimes zu beseitigen.

Was die Konservativen und ihren Parteivorsitzenden am meisten befriedigen muß, ist der Umstand, daß es ihnen gelungen ist, sichtlich tiefe Lücken in die Front der traditionell sozialistischen Wähler zu reißen. Das zeigte sich in einer Reihe vorwiegend industrieller Wahlkreise; am deutlichsten vielleicht in Nottingham-West, wo der bisherige Labour-Abgeordnete, ein prominenter und beliebter Gewerkschaftsführer, wie zum Hohn auf die marxistischen Vorstellungen, von dem konservativen Kandidaten, der den Beruf eines Börsenmaklers ausübt, geschlagen wurde. Aehnliche Erfahrungen machten die Liberalen. Ihre Hoffnung, im Falle eines knappen Wahlausganges das Zünglein an der Waage zwischen den zwei Großparteien spielen zu können, blieb zwar auch diesmal enttäuscht; mit nur sechs Mandaten, wie in der letzten und vorletzten Legislaturperiode, bilden sie weiterhin eine parlamentarische „Quantite negligeable". Trotzdem waren sie mit ihrer Kampagne und der Aufstellung von über hundert Kandidaten keineswegs gtjolglos, e In..JkrejerwicJite, ihre Gefolgschaft ziffernmäßig die zweite: Stelle, “n4a r3i8fe f?b£egebenej Stimmen rund 1,6 Millionen stieg weit über das doppelte der Ziffer von 1955. Dieser Stimmenzuwachs kam offenbar in einem erheblichen Umfang aus dem sozialistischen Lager, und daher ist die Möglichkeit, an die schon jahrzehntelang niemand mehr dachte, nicht von der Hand zu weisen, daß die Rolle der offiziellen Opposition, das heißt einer potentiellen Regierungspartei, in vielleicht nicht sehr ferner Zeit von Labour auf die Liberalen übergeht. Der liberale Parteiführer, Grimond, hält eine solche Entwicklung schon für so gut wie Richer, unter der Voraussetzung, daß der rechte Labour-Flügel, die Gruppe um Gaits- kell etwa, seine bisherigen Bindungen löst und sich mit den Liberalen zu einer neuen „Fortschrittspartei“ — was immer darunter zu verstehen sein mag — vereinigt. Jedenfalls ist das eine Frage, über die man bei der Gewissenserforschung, die jetzt in Transport House anhebt, nicht wird hinweggehen können. Aus Gaitskells Behauptung, Labour habe auch jetzt, durch den dritten Wahlsieg der Konservativen in einer Serie, keine Niederlagen erlitten, sondern bloß einen leicht wieder gutzumachenden Rückschlag, ist wenig Trost zu schöpfen. Wer von der Labour-Prominenz, ob des rechten oder des linken Flügels, noch einen Sinn für die Wirklichkeit besitzt, muß heute zugeben, daß die Partei bei Fortführung ihres bisherigen Kurses zu weiterfortschreitendem Siechtum und schließlichem Untergang verurteilt ist. Die große Masse des Volkes, und zu ihr gehören sicherlich auch viele, die noch aus parteipolitischer Loyalität oder bloßer Gedankenlosigkeit für Labour zur Urne gegangen sind, lehnt die Wiedereinsetzung einer sozialistischen Regierung ab, weil sie zu gut weiß, was das bedeuten würde: die Reaktivierung der unökonomischen und gerade auch bei der Arbeiterschaft verhaßten Nationalisierungspolitik; die allmähliche Kollekti- visierung und Reglementierung aller Bezirke des persönlichen Lebens; eine sorglose Finanzwirtschaft, Steuererhöhungen, Währungsverfall und als dessen Folge laufende Preissteigerungen, die gerade die wirtschaftlich Wehrlosesten, die Altersrentner und Empfänger von Ruhegenüssen, am härtesten treffen würde. Das, was in den letzten Jahren unter konservativer Führung erreicht worden ist, ein allgemein erhöhter Wohlstand, Verminderung des Steuerdrucks, soziale und kulturelle Fortschritte, ein ausgeglichenes Budget, Stabilität des Pfundes und der Preise, das alles ist dem Volk zu wertvoll, als daß es gewillt wäre, sich neuerlich sozialistischen Experimenten auszusetzen. Und ähnliches gilt auch für die Außenpolitik. Auch in Beziehung auf dieses Gebiet herrscht offenbar die Meinung vor, daß das Ansehen und der Einfluß Großbritanniens in der Welt, wie seine Sicherheit und die Sicherung des Friedens überhaupt, bei den Konservativen in besseren Händen sind als bei den Sozialisten, die mit ihrem projektierten „Atomklub“, ihren Auseinandersetzungen über „Disengagement“, ihrer zweideutigen Haltung zur NATO und zur Deutschlandfrage nicht gerade ein überzeugendes Bild weltpolitischer Zielsicherheit geliefert haben.

Welche Schlußfolgerungen die Labour-Strate- gen ziehen werden, wenn sie die Ursachen ihrer Niederlage geprüft haben, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Ob sie sich dafür entscheiden werden, die Fesseln überlebter Vorstellungen abzustreifen und die Partei auf das Geleise wirklichen Fortschritts zu lenken; ob alles beim alten bleiben soll, vielleicht mit einer Akzentverschiebung nach links oder nach rechts; oder ob es tatsächlich, wie manche annehmen, zu einer offenen Spaltung der Partei kommen wird und wie sich das Verhältnis der Gewerkschaften zur Partei weiterhin gestaltet, die Antwort auf alle diese Fragen wird erst die Zukunft geben. Sie beansprucht zur Zeit die Aufmerksamkeit und das Interesse, nicht allein der Konservativen, weniger, als der weitere Verlauf der für die gesamte westliche Welt bedeutsamen Aktion, die der britische Regierungschef mit seiner Moskaufahrt zu Beginn dieses Jahres eingeleitet hat und der er sich nun, gestärkt durch einen unzweifelhaften Beweis des in ihn gesetzten Vertrauens, mit erhöhtem Eifer widmen wird. Eine der Hoffnungen, die er an seine damaligen Initiative geknüpft hatte, die Gewinnung eines wahltaktischen Vorteils, hat sich erfüllt; ob sich auch die andere, viel weiter reichende erfüllen wird, eine echte und dauernde Entspannung zwischen West und Ost, also die Zähmung des sowjetischen Imperialismus, in die Wege geleitet zu haben, das bleibt leider abzuwarten. Jedenfalls, Naivität, konfuses Denken, Energielosigkeit sind ungefähr das letzte, was man Mac- millan vorwerfen kann. Sosehr er sich für persönliche Fühlungnahmen, Konferenzen, Staatsvisiten zwischen West und Ost einsetzt, wird er bei allen seinen Bemühungen um Verständigung mit Moskau darüber wachen, daß keine einzige Position des Westens aufgegeben wird, die für die Verteidigung lebenswichtiger Interessen der westlichen Welt unerläßlich ist. Das erwartet das britische Volk von ihm, und es liegt kein Anlaß vor, zur befürchten, daß er diese Erwartung, die heute auch von allen anderen Völkern des Westens geteilt wird, enttäuschen könnte.

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