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DIE GEBURT DER KURZGESCHICHTE

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Von den grohen russischen Dichtern des 19. Jahrhunderts ist Anton Tschechow der unbekannteste und vielleicht doch der meistgelesene geblieben; denn seine Kurzgeschichten ziehen landauf, landab noch immer durch die Gazetten der Weit. Nicht in Amerika, wie man heute so gern will, in Rußland wurde die Kurzgeschichte geboren, das erzählerische Bonmot, der als Aphorismus auftauchende und versinkende Mensch. Und Tschechow war ihr Geburtshelfer. Er besafj nicht die weltmännische Melancholie Turgenjews, nicht die Dämonie Dosfojewskijs und nicht die homerische Breite eines Tolstoj, er war kein Vorbereiter des Künftigen, er war der Beschliefjer eines Jahrhunderts, des bürgerlichen, das in Ruhland mehr Käuze hervorgebracht hat als anderswo, da der russische „Bürger“ nichts als ein abgewandelter Sklave war, kurzlebig wie alle Versuche einer bürgerlichen Revolution bis zu jener, die 1917 unter der heranstürmenden Woge des Bolschewismus zerbrach. Kurzgeschichten wie die Kurzgeschichten Tschechows, „Rußland grenzt an kein Land, Rußland grenzt an Gott“, hat Dostojewskij gesagt. Tschechow grenzt an den Menschen, und der Bürger begrenzt ihn. Das ist kein Tadel, das macht seine Gröhe aus; denn die besah er, die kurze und vielleicht etwas zu kurz gekommene Gröfje. Er besafj den Reichtum eines einzigen Demanten, aber den ganz und in funkelnder Schönheit, geschliffen von einem unbegrenzten Humor. ,

In seinen Geschichten passiert fast nichts; der „Falke“ fehlt dort und auch das überraschende Ereignis, das Goethe von der Novelle fordert. Tolstoj hat ein „Lebensbuch für alle Tage“ angelegt, Aphorismen und Erzählungen vieler Zeiten und Zeitgenossen, und darinnen („Jede Woche zu lesen!“) das „Seelchen“ von Tschechow zitiert. Nichts geschieht in dieser kleinen Erzählung, was nicht jeden Tag und dort geschehen könnte: Das „Seelchen“ liebt wie eine dumme Gans, macht sich die Reden ihrer Männer zu eigen urtd schwätzt verliebten Unsinn nach. „Der Dichter wollte sich augenscheinlich lustig machen über dies seinem Verstände, nicht aber seinem Gefühle nach beklagenswerte Geschöpf (lächerlich alle und alles in dieser Geschichte, diese Männer und dieses .Seelchen') — nein, keineswegs lächerlich, sondern heilig und wunderbar ist .Seelchens' Seele mit ihrer Fähigkeit, sich mit ihrem ganzen Wesen denjenigen hinzugeben, die sie liebt“, schreibt Tolstoj und zögert nicht, diese „tiefsinnige Erzählung“ mit der Geschichte von Biliam und der Eselin, darinnen sich ein Fluch zum Segen wandelt, zu vergleichen und ihren Wert am Alten Testament zu messen.

Ein unbestimmter Akzent bestimmt die Akzente seiner Erzählkunsf; „Seelchen“ ist ein Beispiel dafür, wie sein Name, den man Tschechow oder Tschechow aussprechen darf. Sohn eines Leibeigenen (Trauer und Stolz in seiner Seele), Arzt in Moskau, die Schwindsucht und das Wissen um den frühen Tod (1904) in Badenweiler, das sind die unbestimmten Akzente eines vorbestimmten Lebens. In seinen Kurzgeschichten, in seinen Provinzdramen, der „Möwe“, dem „Onkel Wanja“, den „Drei Schwestern“ und dem „Kirschgarten“ bricht es immer wieder durch; ein off makabrer, aber immer tiefmenschlicher Humor überspielt sie. Unsere Bühnen wissen davon; unsere Leser und Leserinnen übersetzen seine knappen Skizzen, deren Meister er war, manchmal vielleicht zu sehr ins Deutsche. Sie sind russisch, und wer den Weg studieren und nachgehen will (über viele Vulkane hinweg), der zum heutigen Rußland führt, kommt an Tschechow nicht vorbei. Was bei uns ein Breitangelegtes war und Geltung durch Jahrhunderte hatte, das Bürgertum war in Rufjland nur eine Episode, ein schmaler Graben, den die bolschewistische Revolution leicht überspringen konnte; selbst diesem Kolofj gelang es. Und warum es ihm gelang, das steht ebenso bei Dostojewskij wie bei Tschechow geschrieben. Nicht nur Gott, auch der Mensch setzt Grenzen, aber das grenzenlose Rufjland will das nicht (oder noch nicht) wahrhaben; es ist gut und böse, es ist klein und grofj. Die eine Seite dieses ungeheuren Doppelantlitzes hat Tschechow nachgezeichnet, der verhinderte Bürger, und seinen Stift an den frühen Gorki weifergegeben. Irgendwo Hegt die Zukunft. Sie wird nie erreicht, und immer wieder begeht die Gegenwart Selbstmord.

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