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Leidenschaftsloser Zeuge

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„Kein Mensch fährt zum Nordpol. Aber jeder geht ins Büro, zankt sich mit seiner Frau und ißt Kohlsuppe.” Mit diesem Bonmot hat Anton Tschechow sich verteidigt gegen den Vorwurf, daß er nur das Kleine, das Alltägliche, das Banale zu schildern vermöge. Und in der Tat, auf den ersten Blick scheint er schlecht abzuschneiden im Vergleich mit seinen großen Zeitgenossen: mit Tolstois kolossaler Erinnerung an die napoleonische Zeit; mit Dostojewskis prophetischem Blick auf den kommenden Menschentypus hin; mit dem in deutschen Landen allerdings kaum bekannten Lesskow auch, der die elementaren Regungen der russischen Seele in Novellen von shakespearischer Gewalt erhellt hat.

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„Kein Mensch fährt zum Nordpol. Aber jeder geht ins Büro, zankt sich mit seiner Frau und ißt Kohlsuppe.” Mit diesem Bonmot hat Anton Tschechow sich verteidigt gegen den Vorwurf, daß er nur das Kleine, das Alltägliche, das Banale zu schildern vermöge. Und in der Tat, auf den ersten Blick scheint er schlecht abzuschneiden im Vergleich mit seinen großen Zeitgenossen: mit Tolstois kolossaler Erinnerung an die napoleonische Zeit; mit Dostojewskis prophetischem Blick auf den kommenden Menschentypus hin; mit dem in deutschen Landen allerdings kaum bekannten Lesskow auch, der die elementaren Regungen der russischen Seele in Novellen von shakespearischer Gewalt erhellt hat.

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Tschechow hingegen handelt nur von der ewigen Plackerei, vom Suff, von der Langeweile, der Einsamkeit, eben vom Alltag, und selbst ein Mord ist kein sensationelles Ereignis, sondern wird in der scheinbar beiläufigen Diktion Tschechows gleichsam eingeebnet in diesen Alltag. Aber kein anderer Erzähler hat je aus so wenig Stoff so viel Thema herausgeholt aus so wenig Sensation so viel Tragik.

Denn Tschechow liefert nicht bloß naturgetreue Bilder aus dem Leben des Volkes, sondern fragt mit diesen Bildern, was denn dahinter sei; läßt ahnen, daß es dahinter ein „Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit” geben könnte. Das „Wichtige”, Fragen und Ahnungen, die seinen Figuren eine zusätzliche Dimension verleihen: die metaphysische. Die einen, nämlich die Armen, die Entrechteten, verfehlen die geistig-sittliche Erweiterung ihres dumpf tierischen Daseins freilich, weil ihnen das dafür unerläßliche Minimum an Geld, an Zeit und damit an Energie fehlt. Und die Reichen oder zumindest Bemittelten sind ganz einfach zu träge dazu oder zu sehr beansprucht von Reputation, Prestige, Konvention - da zeichnet Tschechow ein Analogon zu unserer heutigen geistig-sittlichen Wohlstandsentartung! Er hat Luxus und Müßiggang als tödliches Übel gesehen, ohne deswegen, wie manchmal Tolstoi, Armut oder gar Not und Elend ideologisch zu verbrämen.

Ein Ideologe war Tschechow überhaupt nicht; er wollte nichts sein als ein „leidenschaftsloser Zeuge”, „objektiv wie ein Chemiker”, nicht be- oder gar verurteilen, sondern nur zeigen, „daß es das gibt”. Er hat seine Kunst - Somerset Maugham vergleicht sie mit der Flauberts - ganz reingehalten von jeder Tendenz, und zwar dadurch, daß er in sich die Funktion des Künstlers von der des Staatsbürgers streng getrennt hat: Sein Buch über die Strafkolonie Sachalin ist weder eine Art Tatsachenroman noch ein Pamphlet, sondern eine nüchterne Reportage. Aber dennoch gehört diese zu dem aus weit über dreihundert Kurzgeschichten und sechs kleinen Romanen bestehenden erzählerischen Werk, von dem Tolstoi gesagt hat: „Das ist Puschkin in Prosa.” Denn durch die Einbeziehung von „Sachalin” besitzen wir den ganzen Tschechow: den mitleidenden ‘und helfen wollenden Menschen, der, wie alle seine Bekannten bezeugt haben, voll von Güte und Zärtlichkeit war, und den Künstler, der an sich selber die strengsten Maßstäbe angelegt hat: den Meister erzählerischer Ökonomie und Solidarität, an dessen Produkten man nicht das geringste ändern könnte, ohne dadurch das Ganze zu zerstören.

Dieses ganze erzählerische Werk Tschechows ist jetzt, nicht nur nach wie vor einzeln, sondern auch in 10 Taschenbüchern in Kassette, zu haben für den Preis von rund 40 Päckchen vom „Duft der großen weiten Welt”. Kein Vergleich!

ANTON CECHOW: DAS ERZÄHLENDE WERK. Aus dem Russischen von G. Dick, W. Düwel, A. Knip- per, H. v. Schulz, M. Pfeiffer, G. Schwarz. Gesamtredaktion Peter Urban. Diogenes Verlag, Zürich, 3616 Seiten, S 731,50.

Landes wies. An wenigen Plätzen der Erde sind so viele Kunstschätze auf so kleinem Raum konzentriert wie im •Kathmandu-Tal - vieles davon befindet sich versteckt in Innenhöfen, engen Seitengassen, Hainen und Gärten.

Und hier, im verborgenen, zehrt der Verfall an dieser ungeheuren Substanz. Ihre Rettung und Sicherung wäre um so wichtiger, als die Kunst Nepals keineswegs eine unwichtige Seitenlinie der hinduistischen und buddhistischen Kunst darstellt. Nepal ist seit dem Beginn seiner faßbaren Geschichte, also seit rund eineinhalb Jahrtausenden, ein Hort der religiösen Toleranz; der aus Indien, seinem Entstehungsland, vertriebene Buddhismus fand hier Zuflucht und lebt seither in friedlichem Nebeneinander und gegenseitigem Durchdringen mit dem Hinduismus zusammen, und Nepals Kunst machte ihren Einfluß bis China geltend. So zum Beispiel ist der Pagodenbaustil aller Wahrscheinlichkeit nach in Nepal entstanden.

Winklers Buch: Nicht nur ein großer optischer Eindruck, sondern auch ein Werk, das nachdenklich macht. In einem der Innenhöfe von Kathmandu stieß Winkler auf restaurierende deutsche Fachleute. Österreich hat einschlägigen Know-how. Tun wir schon etwas im Kathmandu-Tal? Und wenn nicht - könnten wir nicht? Sollten wir nicht?

H.B.

NEPAL von Jürgen Winkler und Mukunda Aryal. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 232 Seiten, 40 Vierfarbtafeln, 112 schwarz-weiße Tafeln, 80 Seiten Text, öS 754,60.

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