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Alex. Nik. Ostrowski)

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Der Weltruhm des russischen Theaters ist unbestritten. Es gibt wenige Völker mit so echtem Theaterblut wie die Russen. Die darstellenden Künste sind wohl jenes Gebiet, auf dem die Genialität des Russentums immer von neuem schöpferischen Ausdruck gewinnt. Dem entsp-' ht nun im Drama seltsamerweise keine gleich groCe Begabung. So genial manche Szenen bei Puschkin hingeworfen sind, so groß eine Dichtung wie Leo Tolstois „Macht der Finsternis“ auch ist, so gerne man auch des Grafen Alexej Konstantino-witsch Tolstoi dramatische Trilogie aus der russischen Geschichte, besonders ihren zweiten Teil „Zar Feodor Iwanowitsch“, zu den bleibenden Werken der dramatischen Weltliteratur rechnen mag — die doch wahrhaft große russische Literatur hat keinen Dramatiker aufzuweisen, der wie Shakaspeare, Calderon, Schiller oder Grillparter den Kosmos in der Form der Tragödie geprägt hätte. Die Repräsentanten des russischen Geistes in der Weltliteratur sind die großen Epiker, vor allem Leo Tolstoi und Feodor Michailowitsch Dostojewskij. Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasoff“ ist auch die umfassendste und tiefste Tragödie der russischen Dichtung.

Die russische Dichtung verfügt indessen über einen Reichtum an Komödien, der fast vergessen macht, daß ihr die große Tragödie fehlt. Von Fonwisins genialer dramatischer Karikatur „Der Landjunker“ über Griboje-dows „Verstand schafft Leiden“ und Gogols „Revisor“ bis zu Tschechows stimmungsreichen Bühnenwerken zieht sich eine Kette von Meisterwerken, die nicht nur von eminent kultur- und sozialgeschichtlicher Bedeutung sind, sondern audi einen unmittelbaren künstlerischen Wert aufweisen. Der größte unter den Meistern der russischen Komödie aber ist wohl Alexander Nikolajewitsch Ostrowskij (1823—1886), der Sohn eines Anwalts Moskauer Kaufleute, selbst jährelang am Handelsgericht tätig und damit aus Erfahrung ein Kenner der altrussischen Kauf-, mannschaft, deren unvergleichlicher Zeichner er wurde. Als Leiter des Moskauer Theaters ist Ostfowskij gestorben, ein Gesamtwerk von vierzig Milieu- und Gesellschaftsdramen hinterlassend, die sich alle durch eine unerhörte Lebenswärme, sdiarfe Charakteristik der Gestalten und bei aller Gewalt der Satire durch einen gütigen Humor auszeichnen. Und es ist vor allem die Welt der altrussischen Kaufmannschaft und des Kleinbürgertums, die Ostrowskij in seinen Dramen Gestalt gewinnen läßt, eine Welt starrer, oft absurder und roher Traditionen und Sitten, ein „dunkles Reich“, wie der Kritiker Dobroljubow sie genannt hat, ein Reich der Finsternis, in dem der Dichter das Licht seiner gütigen Menschlichkeit aufleuchten läßt, das auch dann noch wärmt, wenn das Dunkel des Milieus, der sozialen, ständischen Ketten den leidenden Menschen untergehen läßt in dem Sumpf der Gewohnheiten, im Urwald der menschlichen Triebe.

Der Titel vieler Ostrowskijscher Stücke, die oft alte Redensarten und Sprichwörter wiedergeben — „Armut ist keine Schande“, „Schuster, bleib bei deinem Leisten“, „Wir werden uns schon einigen“ — zeigen schon das oft gemütliche, oft drückend dumpfe Milieu an, in dem sie spielen; die Heiratsund Geldsorgen der altrussischen Kleinbürger, Beamten und Kaufleute sind die treibenden Kräfte, die, oft wie in der alten commedia dell'arte, die Menschen typenhaft handeln lassen. Seit den siebziger Jahren hat Ostrowskij die Wirkung der Reformen des Zeitalters Alexanders II. auf die einzelnen Gesellschaftsklassen, unter anderem auch auf den Landadel, gezeigt — so etwa in den Komödien „Tolles Geld“, „Wölfe und Schafe“ — dieses Werk ist seit einigen Wochen dem Wiener Spielplan eingefügt worden —, leider in einer durchaus nicht entsprechenden Aufführung —, „Ohne Mitgift“ — aber auch das ihm- durch seine theatralische Tätigkeit bekanntgewordene Schauspielermilieu hat Ostrowskij in unvergleichlidien Typen .und Charakteren festgehalten, etwa in den Stücken „Talente und Verehrer“, „Schuldlos schuldig“ und in der Komödie „Der Wald“, die vor einigen Jahren auch über die deutschsprachigen Bühnen gegangen ist. Immer aber, wir wiederholen dies, geht es Ostrowskij um den Menschen mit seiner seelischen Not und seinen Schwächen, und einmal ist Ostrowskij ein Wurf gelungen, der uns ihn an die Seite Hebbels stellen läßt: in dem Schauspiel „Das Gewitter“ (1860), dem russischen Seitenstück zu Hebbels „Maria Magdalena“, in dem die Heldin und Dulderin Katerina Kabanowa die Mauern des Milieus nicht durchstoßen kann, weil diese Mauern in ihrem eigenen Innern, in ihrem Gewissen aufgerichtet sind. Geradezu dämonisch gewinnt die Macht der Sitte, der gewohnten Anschauungen Gestalt in der Schwiegermutter Marfa Ignatjewna Kabanowa, einer der wuchtigsten Figuren des russischen Dramas überhaupt.

Ostrowskij hat sich auch im historischen Drama versucht, ohne auf diesem Gebiete indessen über Chroniken hinauszukommen. Eine echte, zauberhaft schöne Dichtung ist ihm jedoch in seinem Märchendrama „Schnee-flöckchen“ gelungen, einem Spiel, das an Raimund und Shakespeare erinnert, einem mythischen Märchen von der Allgewalt der Liebe, — Tschaikowsky hat zu dem Werk die Musik geschrieben, Rimsky-Korsakow hat „Schneeflöckchen“ als Grundlage einer seiner beliebtesten Opern benützt.

Wir stehen wahrscheinlich am Beginn einer Epoche, die durch eine alle Probleme des Geistigen und Künstlerischen umfassende Auseinanderestzung des Westens und des Ostens gekennzeichnet sein wird. Die gewaltige russische Literatur wird sicherlich bis zu einem gewissen Grade stets außerhalb des Interesses des alten germanisch-romanischen Europa bleiben, wie andererseits viele Meisterwerke der westeuropäischen Literaturen psychologisch den russischen Osten nicht werden zu fessehn vermögen. Auch vom Werke Ostrowskijs mag manches, mag vielleicht sogar vieles für immer eine rein russische Bedeutung haben. Ein großer Teil der Werke Ostrowskijs aber verdient es wahrlich, auch bei uns im alten Europa gekannt, geschätzt und vielleicht audi gespielt zu werden. Manche Dramen des Klassikers der russischen Komödie dürften sogar zu einer bleibenden Bereicherung der europäischen Spielpläne werden, handelt es sich doch bei ihnen um menschlich große, tendenzlose Dichtungen, Schöpfunge^ eines gütigen Herzens, die bei aller Milieuverbundenheit, bei aller nationalen Eigenart Zeugnisse des Allgemeinmenschlichen, des Humanen sind.

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