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DRAMA UND TEXTBUCH

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Was würde Shakespeare fehlen, wenn Verdi ihn nicht komponiert hätte? Nichts. Und wäre „Wozzek“ von Büchner weniger wert ohne die Musik von Berg, „Salome“ von Wilde weniger ohne die von Strauss? Nein. Auf der Seite der Literatur würde man weder Verdi noch Berg noch Strauss vermissen, wenn sie statt literarischer Meisterwerke Bücher ohne literarischen Anspruch komponiert hätten. Trotzdem wäre es falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß es überflüssig oder verkehrt sein müsse, literarische Werke zum Ausgangspunkt für Opernschöpfungen zu machen. Das Wortdrama kann zwar nicht ergänzt werden, da es bereits ein Ganzes ist, aber es kann verwandelt werden. Mit der Oper entsteht etwas Neues, die friedliche Koexistenz der beiden „Othello“ seit 70 Jahren ist dafür Beweis genug. Es ist sinnlos, sich darüber zu streiten, ob nun Verdis Oper in sich mehr oder weniger vollkommen ist als Shakespeares Wortdrama. Ueber solche Fragen entscheidet die Zeit ohne Debatte ganz nebenbei: Mozart hat Beaumarchais hinter sich gelassen und Shakespeare Götz.

Nicht erst im Hinblick auf den „Revisor“ von Gogol hat mich das Verhältnis der literarischen Vorlage zur Oper beschäftigt, sondern schon früher: bei „Peer Gynt“ etwa oder bei der „Irischen Legende“. Jedesmal waren vom Gesichtswinkel der Oper aus ganz unterschiedliche Qualitäten ausschlaggebend. Bei „Peer Gynt“ der, ach, so männliche Charakter des Helden und die Vision der unbeirrbar ausharrenden Frau vor dem düsteren Hintergrund der unserer gemeinen Menschenwelt so ähnlichen Trollwelt. Diese Elemente wurden als Bausteine übernommen, die Handlungsführung nur im groben, Tausende von Details überhaupt nicht, das Gericht mit den toten Zeugen aber wurde neu eingefügt. Bei der „Irischen Legende“ führte die Beschäftigung mit der 1 „Countess Cathicen“ von Yeats zur Volkssage zurück, und es blieb von Yeats weniger übrig als von der Sage. Nicht die Charaktere, nicht die Situationen, nicht der Bau des Dramas, allein die Idee der Heiligen in der Hölle, die aus freiem Entschluß stellvertretend für ihr von Gott verlassenes, zur Spreu geworfenes Volk das Aeußerste auf sich nehmen, diese Idee blieb — sonst so gut wie nichts.

Ganz anders beim „Revisor“. Die Situationen, die Charaktere, der Gang der Handlung und die Themenstellung blieben ziemlich erhalten. Warum aber bleibt das eine Mal manches, das andere Mal fast gar nichts und ein drittes Mal so viel von der Gestalt der literarischen Vorlage? Die Antwort ist einfach. Der Komponist arbeitet im Hinblick auf eine in ihm selbst geborene Vorstellung. Im Vergleich dazu darf ihm nicht unbedingt an der Konservierung der literarischen Vorlage gelegen sein. Abgesehen von dem imaginären Vorgang, der durch die Bewegung des Gemüts und das Arbeiten der Phantasie entsteht, wird eine neue geistige Ordnung der Bilder- und Wortwelt durch musikalische Formvorstellungen gesetzt. Die Konzeption der Oper „Peer Gynt“ war mehr auf das unmittelbar Bildhafte gerichtet als auf das Literarisch-Symbolische, die der „Irischen Legende“ mehr auf das gedanklich Bedeutende als auf das Lyrisch-Stimmungsvolle, und dadurch wurde in beiden Fällen der Handlungsablauf verändert. Die Konzeption des „Revisor“ aber zielt mehr auf die Herausarbeitung des Handlungsablaufs als auf seine Veränderung. Die Konturen sind härter gezogen, die Abläufe schärfer gesehen, das behagliche Verweilen in der Schilderung der Zustände und Gestalten wurde durch ein systematisches Ineinanderschieben der Szenen, eine rapide Verkürzung aller Linien, eine gänzlich „aperspektivische“ Umbildung der Proportionen, kurz durch einen Gogol fremden.

modernen musikalischen Grundrhythmus ersetzt. Auch hier wurde bewußt mit dem Stoff, ganz gegen den oberflächlichen Anschein, eine vielleicht noch einschneidendere Veränderung vorgenommen als bei „Peer Gynt“ und „Countess Cathleen“.

Vorbedingung für das Gelingen einer solchen Verwandlung ist die Beherrschung der Wortdichtung, und es ist keine Uebertreibung, wenn ich sage, daß ich Wochen darauf verwenden mußte, nur um mir vor Beginn der eigentlichen Arbeit den „Revisor“ von Gogol anzueignen und ihn von den verschiedensten Standpunkten aus zu durchforschen. Am Ende dieser Arbeit konnte ich mir den ganzen Szenenablauf nahezu gleichzeitig vergegenwärtigen, und die Gestalten Gogols erschienen mir wie alte Bekannte, von denen man weiß, wie sie in jeder Situation reagieren würden. Ich hatte auf großen Bogen den Grundriß der Komödie mit Anmerkungen zu verschiedenen Bezügen fixiert. Diese Bogen veränderten sich nun, und allmählich zeichnete sich auf ihnen das graphische Bild des Librettos mit seinen 22 Musiknummern ab, und ich konnte darangehen, den neuen Text zu formulieren. Mit Rücksicht auf die beabsichtigte Einbeziehung der Folklore wählte ich die gebundene Sprache (mit Ausnahme der „Briefe“ und einer „Verlautbarung“), meist einen vier-füßigen Vers mit steigendem oder auch sinkendem Rhythmus, der sich bei verschiedenen musikalischen Nummern zu Strophen bildet. — Wenn der Opernbesucher trotz aller Veränderungen, denen die Komödie unterworfen wurde,

den Eindruck hat, es wäre am Original eigentlich kaum etwas Grundsätzliches verändert, dann ist die Uebertragung der Substanz von der einen Form in die andere wirklich geglückt.

Die beabsichtigte Beziehung zur russischen Folklore wurde durch die häufige Anwendung einer modulationslosen tetrachordischen Melodik mit der charakteristischen, aus zwei an-einandergehängten Tetrachorden bestehenden siebentönigen Leiter hergestellt, aber auch — abgesehen von dem zu Ende des dritten und Anfang des vierten Aktes variierten russischen Lied „Stand ein Birkenbaum auf dem Felde“ — durch die häufige Verwendung russischer Lied-und Tanzformen, angefangen vom ersten Ensemble „Ganz ungewöhnlich“ bis zur Bestechungsmusik oder dem Schlußensemble „Der Stadthauptmann ist dumm und faul“.

Alle uns bekannten russischen Komponisten benutzten in ihren Werken häufig und ganz selbstverständlich Volksweisen ihrer Heimat, und viele dieser Melodien und viele der ihnen

zugrunde liegenden Formen sind dem großen Publikum nur aus diesen Werken geläufig. Die Volksweisen „Jung Wolga“, „Glocken von

Nowgorod“ und „Mädchens Rache“ kennt man aus der Oper „Boris Godunow“, „Tataren-einfall“ aus „Fürst Igor“, „Die Ausgestoßene“ und „Am Morgen nach der Hochzeit“ aus „Chowantschina“, „Orududu“ aus dem „Jahrmarkt von Sorotschintzi“, „Die Wolgaschlepper“ aus „Stenka Rasin“ usw. £s muß angemerkt werden, daß die charakteristischen Wendungen der russischen Folklore im „Revisor“ nicht etwa dem eifrigen Studium der russischen Kunstmusik von Glinka bis Strawinsky zuzuschreiben sind, sondern dem Studium der melodischen Struktur der altrussischen Folklore und einer Wanderung zu den Quellen. Im Gegensatz zu den genannten Beispielen aus der russischen Opernliteratur wurden im „Revisor“ mit der schon erwähnten, im Klavierauszug gekennzeichneten Ausnahme, russische Originalmelodien nicht übernommen. Daß das musikalische Kolorit nicht nur als „Ortsbestimmung“ verwendet wurde, sondern vor allem auch zur Verstärkung der komischen Wirkungen, das hört und sieht man deutlich

genug zum Beispiel in der Szene, in der dem halbverhungerten Chlestakow die dampfende Suppenschüssel zum feierlichen Fortissimo eines pathetischen Bläsersatzes auf das Zimmer gebracht wird, oder in den stummen Bestechungsszenen, die von einem „russischen Tanz“ in vier Abwandlungen, vom „ängstlichen“ Pianissimo der Streicher bis zum „schamlosen“ Tutti des Orchesters kommentiert werden.

Vor allem galt mein Bemühen der Einfachheit, nicht der der Technik, sondern der der Musik und des Ausdrucks. Dabei hat sich wieder bestätigt: Das Komplizierte ist leicht zu machen, das Einfache aber schwer. Das Komplizierte wirkt schwierig, und wer versteht, wie es gemacht ist, der hat etwas davon. Aber das Einfache wirkt leicht, und der es aufnimmt, braucht nicht zu verstehen, wie es gemacht ist. Er besitzt es ohnehin und er versteht, was es ausdrückt.

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