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Theater der Gegenwart

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Die Lektüre des Bandes „Theater hinter dem Eisernen Vorhang“, der Eindrücke, Blitzlichter, da und dort Versuche einer ersten Zusammenschau bringt, ist nicht allein für den ambitionierten Theaterfreund, sondern auch für jeden an der Zeitgeschichte Interessierten ein faszinierendes Dokument. Die Beiträge von Wolfgang Kraus, Philipp Wolff-Windegg, Jacek Frühling, Stephan Vajda, Heinz K ersten und Klaus Völker entrollen ein Panorama einer zwar unter vielerlei Zwängen stehenden, doch in vollem Aufbruch befindlichen geistigen Welt, in der fortwährend Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares sich ereignet. Liest man bei Kraus, wie etwa in Moskau Vorstellungen stattfinden, in denen Stanislawskijs Spielformen in höchster Vollendung heute noch den westlichen Besucher in Bann schlagen, während gleichzeitig etwa ein Nikolaj Ochlopkow, der noch ein Schüler Meyerholds war, eine „Medea“ des Euripides mit expressionistischen Kennzeichen inszeniert oder verschiedene Bühnen surreale Effekte innerhalb gewisser Grenzen verwenden, so bangt und hofft man mit den russischen Nonkonformi-sten darum, ob die Zukunft weitere freie Entfaltungen ermöglichen oder hemmen wird. Kraus berichtet nicht nur aus Moskau, Leningrad und Kiew, sondern auch aus der CSSR, Rumänien und Bulgarien. In Sofia zum Beispiel, wo die Entwicklung jahrzehntelang stagnierte, gibt es das 1956 gegründete „Staatliche Satirische Theater“, dessen Ergebnisse vielfach in die Nähe des modernen „absurden Theaters“ des Westens geraten, wenngleich aus völlig anderer Ausgangsposition, nämlich dem Versuch, etwas wie ein zeitgenössisches Commedia-delJ'arte-Theater zu erwecken. Hier brachten unter anderem Valey Petrovs „Die Nacht der dritten Rose“, eine mit heterogenen Stilelementen grandios jonglierende tragisch-komische Zeitsatire (die gegenwärtig in Wien ins Deutsche übertragen wird), und sein zweites, aus vielen Szenen bestehendes, ebenfalls satirisches Stück „Estrade“ großartige Publikumserfolge, die sich im Zeichen der Tauwetterperiode im gesamten Ostblock rasch durchsetzten — beides Werke, die sich infolge ihrer Poesie, witzigen Geistesschärfe und ihres Charakters als echte Dichtungen auch im Westen die Bühnen erobern dürften. Besonders fesselnd sind die Darstellungen über Polen und hier jene von Wolff-Windegg über das „Theater-Laboratorium 13rzed'ow“ im kleinen westpolnischen Städtchen Opole (Oppeln, 54.000 Einwohner), das durch seine kühnen Experimente längst auch im Westen von sich reden machte. Hier gibt es keine Bühne, sondern es wird unter den Zuschauern, oft mit ihrer Einbeziehung, gespielt. Realität als solche ist verbannt. Es gibt Berührungspunkte zu W. B. Yeats späten Einaktern und zu den Nö-Spielen (die auch Yeats durch Ezra Pound kannte), es wird „nach Grundkonstanten des menschlichen

Wesens“ geforscht, wobei es zur Konfrontation mit Phänomenen, wie C. G. Jung sie in der Archetypenlehre entwickelte, kommt: angestrebt wird eine Psychomachie, ein Seelenkampf im Zuschauer, was einerseits an improvisierte Psycho-dramen erinnert, hier aber durch präzis gedrillte Darsteller, die mit einem Minimum an Requisiten auskommen, erreicht wird — mit Ergebnissen, die auch schon wieder nach dem Westen zurückwirken. Insgesamt ein Kompendium, dessen Untertitel am besten mit dem Wort von Wolfgang Kraus vom „Theater als Experimentierfeld der Freiheit“ umschrieben würde.

Des Anglisten und vergleichenden Literaturwissenschaftlers Kleinstück umfangreiche Monographie über William Butler Yeats, dessen kraftvolles, vielfacettiert schillerndes Oeuvre im deutschsprachigen Raum bisher nur in kleinen Kreisen bekannt war, schließt eine längst schmerzlich empfundene Lücke mit einer glanzvollen Leistung. Nicht nur wird der Dichter und Mensch (und Nobelpreisträger) Yeats uns nahegebracht, es wird auch den verborgensten Beweggründen seines Schaffens mit durchdringender Intelligenz und profunder Kenntnis der Materie nachgeforscht, so daß die Gestalt dieses Mannes, der zu den großen Bauleuten der Moderne gehört, lebensvoll in uns aufsteht. Was Kleinstücks Arbeit vor allem auszeichnet, ist, daß er sich nicht, wie manche Monographen, seinem Helden gleichsam einverleibt hat, sondern stets in souveräner Freiheit allseitig Beziehungen anleuchtet, den Geist des speziellen irischen Ambiente und den der Periode, in welcher Yeats lebte (1865 bis 1939), mitspielen läßt, und so den Dichter lebendig und funktionell im Gesamtpanorama seiner Zeit begreift und interpretiert. Die Analysen einzelner Werke gehören zu den tiefst-schürfenden Arbeiten auf literarischem Gebiet, die uns in den letzten Jahren begegneten. Dazu gehört, daß zahlreiche lyrische Stücke in ausgezeichneter Ubersetzung neben dem Originaltext eingebaut sind und daß den dramatischen Experimenten des großen Iren, die dieser als symbolisches Spiel auffaßte, eine eigene Studie gewidmet ist, die (neben ihrer Bedeutung zur Erfassung der Gesamtpersönlichkeit) uns auch ganz aktuell zum Verstehen etwa der Nö-Spiele oder, wie oben angedeutet, der Versuche der Avantgardisten von Opole weiterhilft.

Jürgen Rühles „Theater und Revolution“ beginnt mit der lebensvollen Periode des sowjetischen Revolutionstheaters, bringt alle großen Gestalten von Gorki über Meyerhold, Majakowski, Eisenstein, Tairow, Wachtangow und viele andere bis herauf zu Brecht ins Spiel, liefert dazu auch Analysen einzelner Werke und Aufführungen und endet mit einem Ausklang über die Gegenwartssituation in den UdSSR. Ein verläßliches, für jeden, der mit der Materie umgeht, unentbehrliches Handbuch.

Über die Materialien-Ausgabe zu Brecht in der Edition Suhrkamp Worte zu verlieren, hieße, Eulen nach Athen tragen. Sie haben sich kraft ihrer Wichtigkeit unverzüglich ihren Platz erobert. Die vorliegenden Bändchen „Mutter Courage und ihre Kinder“ (Nr. 50) und „Leben des Galilei“ (Nr. 44), mit Anmerkungen, Schriftproben, Notenbeispielen und einzelnen Illustrationen ausgestattet, sind ebenso informativ und exakt zusammengestellt wie die vorhergehenden Ausgaben. Die Bearbeitungen nach „Der Frieden“ von Aristophanes und „Die Kindermörderin nach Heinrich Leopold Wagner“ von Peter Hacks, der in der geistigen Nachfolge Brechts in Ostdeutschland arbeitet, gehören zu den bedeutsamsten Werken, die in den letzten Jahren in der Zone entstanden und auch im Westen mit gebührender Achtung aufgenommen worden sind.

Daß die Fischer-Bücherei Piran-dellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ und seinen „Heinrich IV.“ sowie Ionescos „Impromptu“ und „Die Nashörner“ herausgebracht hat, freut jeden Theaterbesucher.

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