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Der grobe Dichter Rublands

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Nikolaj Gogol: Werke. Klassiker im Verlag Kurt Deich, Wien. Auswahl, Uebersctzung und Nachwort von Franz Xaver Graf Schaffgotsch. 1120 Seiten

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Nikolaj Gogol: Werke. Klassiker im Verlag Kurt Deich, Wien. Auswahl, Uebersctzung und Nachwort von Franz Xaver Graf Schaffgotsch. 1120 Seiten

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Die Werke des großen russischen Erzählers, Dramatikers und Kulturkritikers sind wiederholt in deutscher Uebertragung erschienen. Vollständig in einer recht guten Ausgabe von O. Buek (8 Bände, 1909 bis 1914), in vortrefflicher Sichtung vom Tolstoj-Uebersetzer A. Luther (2 Bände, 1923) und nochmals von K. Holm (2 Bände, 1924). Keine dieser Leistungen entspricht indessen den Bedürfnissen einer die weitesten Schichten erreichenden Botschaft Gogols an den deutschen Sprachraum in so hohem Maße wie Graf Schaffgotschs meisterhafte Nachschöpfung, samt ihrem gehältigen, eigenständigen, das Wesen des Dichters erklärenden Nachwort. Wir empfangen hier einen deutschen Gogol, wie uns einst Moeller van den Bruck den deutschen Dosto-jewskij beschert hat. Mit dem Unterschied, daß Schaffgotsch im Rahmen der volkstümlichen, allerdings schön gedruckten Klassikerausgaben des Desch-Verlages von vornherein nicht Vollständigkeit erstrebte, sondern eine Auswahl darbot. In ihr, die man im allgemeinen bejahen kann, vermissen wir leider zwei Novellen, die sich ebenbürtig dem „Mantel“ anreihen: „Das Porträt“ und „Nevskij Prospekt“. An Dramatischem hätten wir gerne, neben dem unvergänglichen „Revisor“, noch die reizende „Heirat“ vorgefunden. Sonst aber ist alles Wesentliche vorhanden: die geheimnisvoll verzaubert-ver-zaubernden „Abende auf dem Vorwerk bei Dikan'ka“ mitsamt dem „Jahrmarkt von Sorocincy“, der unheimlichen „Johannisnacht“, der bitter-schalkischen „Mainacht“, der grotesk-surrealistischen „Christnacht“, der Schrecken auf Schrecken häufenden „Schrecklichen Rache“ und dem Idyll vom Glück der Einfältigen im stillen Winkel „Ivan Fedorovic Spon'ka und seine Tante“, mit den beiden Hexengeschichten in Rein(un)kultur „Das verschollene Schreiben“ und „Ein verwünschter Ort“; die vier Erzählungen aus „Mirgorod“ — „Altväterische Gutsherren“, „Taras Bul'ba“, „Der Vij“ und die Geschichte vom Zank Ivan Ivanovics mit Ivan Niki-forovic; „Die Nase“, „Der Mantel“, „Die Kalesche“ und die „Aufzeichnungen (besser als: Tagebuch) eines Wahnsinnigen“; selbstverständlich „Die toten Seelen“ und endlich „Der Revisor“. Die Ueber-setzung hat Schwung, Anmut und Witz, dichterische Innigkeit, die bei Gogol so nötige Farbenpracht und Ausdruckstärke. Das bewährt sich an berühmten, klassischen Stellen, wie der Schilderung des ukrainischen Sommers zu Beginn des „Jahrmarkts von Sorocincy“ oder an den Schlußabsätzen der „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ und des ersten Teils der „Toten Seelen“ oder an der sechsten Szene des dritten Aufzugs im „Revisor“, wenn Cblestakov plötzlich in einem Anfall heiligen Größenwahns sich an seiner eigenen, wahrhaft „schwindelnden“ Herrlichkeit berauscht Wir können Schaffgotsch kein besseres Lob erteilen, als ihm nachzurühmen, daß seine Uebertragung den Geist Gogols und des Rußlands Nikolaus I. atmet. Freilich, selbst „Homer schläft manchmal“ und so wird denn der pedantische Prüfer finden, daß beispielsweise in der schon erwähnten gefeierten Beschreibung der heißen Jahreszeit in Gogols Heimat, gleich zu Anfang, nicht von einem Sonntag die Rede ist, sondern von einem Sommertag (letnii den'), der berückend, prächtig (roskoäen) ist und keineswegs üppig.

Uneingeschränkten Beifall zollen wir dem biographisch-kritischen Nachwort. Der Herausgeber schildert in gewählter, doch schlichter Kunstprösa, die Umwelt, in die Gogol hineingeboren wurde, das zaristische Rußland und die engere ukrainische Heimat; die lange unter polnisch-westlichem Kultureinfluß beharrenden kosakischen Vorfahren des Dichters, dessen Elternhaus und die Lehrjahre. Zu diesem Abschnitt möchten wir ergänzend bemerken, daß der von Schaffgotsch vermutete Anschluß der Gogol-Janovskij an die Kirchenunion urkundlich bezeugt ist: Ivan BoguSevic Gogol, Archimandrit von Kobryn, hat sich 1596 vom Schisma abgewandt. Hervorragend ist der Ueberblick, den das Nachwort von den literarischen Anfängen, vom meteorhaften Aufstieg Gogols in den Jahren 1830 bis 1836, gibt. Der Siebenundzwanzigjährige, mit Puskin, Zukovskij, Pogodin befreundet, steht auf der Höhe seines Ruhms. Nun verläßt er Rußland auf lange, nur vorübergehend in seinem Vaterlande weilend. Rom, Paris, Wien üben auf ihn ihre Wirkung aus Von diesen Wanderjahren bringt er „Die toten Seelen“ heim, die einen im Spiegel eines zutiefst pessimistischen Temperaments geschauten Querschnitt durch die Gesellschaft des Zarenreichs boten. Schaff-gotsch übersieht bei dieser Periode die- einschneidende Bedeutung des Wiener Aufenthalts und der dort zum Durchbruch gelangten religiösen Krise. Aus dem eleganten, jungen Spötter wird nun ein qualvoll an sich selbst und an den Unvollkom-menheiten seiner Landsleute, an denen der ganzen Menschheit leidender echt rassischer Büßer. Diese Umkehr, die Hinwendung zum Mystizismus, den freilich bereits die mit ihm spielenden poetischen Erstlingsgaben Gogols hatten ahnen lassen, ertötet in ihm den schöpferischen Schriftsteller. Aehnlich wie Mickiewicz im Zeichen des Towianismus und dann der christlich-sozialen Publizistik, hört der Erzähler, der Dramatiker aus der Ukraine auf, das Künstlerische voranzuheben. Er veröffentlicht nur noch eine politische Mahnung, sich dem gottgewollten, vorbildlichen Zarentum zu unterwerfen, und ein religiöses Bekenntnis, das er von einer ihn unbefriedigenden Wallfahrt ins Heilige Land mitbringt. Dann senken sich auf Gogol die Schleier des Versündigungswahns nieder. Sterbenskrank, verbrennt er den unvollendeten zweiten Teil der „Toten Seelen“. Zwölf Tage darauf ist er, am 4. März 18 52, dreiund-vierzigjährig, dahingeschieden.

Dieser Lebenslauf klingt bei Schaffgotsch in eine überzeugende Würdigung des „Falles Gogol“ aus. Auf wenigen Seiten erhalten wir da ein allseitiges Bild des Menschen und des Dichters. Mit Recht wird die anachronistische Inanspruchnahme des Autors als eines „grand ancetre“ des Bolschewismus, als eines „fortschrittlichen“ Wegbereiters abgelehnt. „Progressivnyj“ war er niemals; er hat christliches, menschliches Mitleid mit Unglücklichen empfunden, die dumm, ungebildet, arm, krank und verachtet sind. Doch er hat nicht die Gesellschaftsordnung ändern wollen, die er im Gegenteil verteidigte ... und die er, indem er ihre Mißstände rügend, die Fehlbaren zu bessern hoffte, aufrechtzuerhalten dachte. Hat aber Gogols Gesinnung überhaupt soviel Belang, angesichts der unbestreitbaren Tatsache, daß er ein schöpferisches Sprachgenie, ein Darsteller von unvergleichlicher Zauberkraft gewesen ist? Ihm müssen wir auch den engstirnigen Chauvinismus verzeihen, den er — was Schaffgotsch ein wenig in den Hintergrund treten läßt — sooft bekundete. Er war und er ist einer der größten Schriftsteller der russischen-und der Weltliteratur, der größte seines ukrainischen Volkes, in dessen Sprache er allerdings, von der nivellierenden Macht des zaristischen Rußlands erfaßt, niemals wortkünstlerische Aussage tat, doch dessen Wesen und Art, dessen Vorzeit und Siedlungsgebiet er aufs wunderbarste malte. Dank dem berufenen Mittler und Uebersetzer wird die deutsche Leserschaft breitester Kreise davon mehr als einen Hauch verspüren und von der Magie N. V. Gogols gefangen werden.

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