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„Todfeinde" sitzen in derselben Loge

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Der Begriff des Bürgers, besser des „Bürgerlichen", hat, je gewähltem Kontext, in dessen Bereich er verwendet wird, eine verschiedene inhaltliche Bedeutung. Bei Merkmalsuche kann man sich freilich zuweilen des Eindruckes nicht erwehren, daß es sich um eine billige, politisch-polemisch gedachte Wortetikette handelt, die man etwa in einem politischen Einteilungsnotstand verwendet.

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Der Begriff des Bürgers, besser des „Bürgerlichen", hat, je gewähltem Kontext, in dessen Bereich er verwendet wird, eine verschiedene inhaltliche Bedeutung. Bei Merkmalsuche kann man sich freilich zuweilen des Eindruckes nicht erwehren, daß es sich um eine billige, politisch-polemisch gedachte Wortetikette handelt, die man etwa in einem politischen Einteilungsnotstand verwendet.

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Entstanden ist der Begriff, als es in einer komplex gewordenen abendländischen „Massen"-Gesellschaft notwendig schien, die einzelnen sozialen Schichten u. a. nach ihrem sozialen und sozialökonomischen Status zu unterscheiden, um auf diese Weise die Gestalt der jeweiligen Gesellschaft wahrzunehmen und interpretieren zu können.

Dabei ging man von der Annahme aus, daß ein sich allmählich herausbildender „Reichtum", das heißt, das einzelnen Gruppen verfügbare Eigentum an Produktionsmitteln, einen hohen sozialen Status zu begründen vermag, etwa einen neuen (dritten) Stand neben den Adeligen und den Intellektuellen (Klerus). Das Maß an Freiheit, die Reichtum begründete, schien rangkon-stitutiv zu sein.

Die größer und übersichtlicher gewordenen Gesellschaften gliederten sich allmählich in funktionell bedeutsame Subgesellschaften (etwa „Politik", „Wirtschaft") und in exklusive Teilgesellschaften aus, vor allem im Bereich von Städten mit Stadt-Bürgern, und nahmen den Charakter von lokalisierten und überdies institutionalisierten Tauschgesellschaften an.

Es entstand eine Urbanität mit einem autonomen, an die Siedlungsform der Städte gebundenen, handwerklich tätigen oder handeltreibenden Bürgertum (Bourgeoisie, Stadtbürger).

Vermöge seiner ökonomisch und dadurch politisch abgesicherten Eigenmacht vermochte das Bürgertum des Ursprungs neben der Feudalelite eine eigene politisch autonome Konstitution zu errichten, eine societas civilis, eine souveräne Schichte von Stadt-Herren (L. v. Stein), die einen „bürgerlichen Geist" entwickelten, der sich vom opus servile des Feudalismus distanzierte und diesen schließlich auf eine stadtferne Kümmerposition verwies.

Als Folge einer hypothetischen Synchronisierung der politischen und ökonomischen Revolution im Rahmen der Übernahme des Adjektivs „bürgerlich" in die politische Polemik und in die Ka-tegorisierung der politischen Gruppen kommt es zu einem wachsenden semantischen Defizit des, wie „Mittelstand", vielfach.völlig inhaltsleeren Wortes.

Den „Bürgern" entsprachen in der nur-kritischen Sicht die lediglich utilitaristisch orientierten „bürgerlichen" Kapitalisten („Besitzbürger"), die - als Gegenklasse und Summe von Großbürgern - in einem geradezu logischen Widerspruch zum (weitgehend absoluten)

Staat und ebenso zu den von ihnen ausgebeuteten und sozial Domestizierten stehen.

Die Bourgeoisie - kaum mehr als eine Summe von Egoisten - kann lediglich durch den Staatsapparat notdürftig einigermaßen sozial diszipliniert und an der Expansion ihrer Ausbeutungsvorhaben gehindert werden.

Die sozialökonomischen Strukturwandlungen, die Etatisierung der Produktionsmittel, die Trennung von Eigentumsrecht und Eigentumsgebrauch, die tendenzielle Egalisierung des Je-Kopf-Einkommens, werden von denen, die „bürgerlich" lediglich mit einer Kapitalakklamation bei den von ihnen Bezeichneten gleichsetzten, nicht zur Kenntnis genommen; ebenso nicht die generelle, bis an die soziale Basis reichende Verbürgerlichung des Lebens-

Stils (Konsums) und die partielle Eigentumsersatzfunktion der Sozialversicherung.

Unbeachtet bleibt auch der relative Bedeutungsanstieg jener Sektoren der Gesellschaft, in denen nicht gewinnorientiert gearbeitet wird (Schule, mo-nopolide Massenmedien), die aber vermöge ihrer Position die Gesellschaft in einer besonderen Weise disziplinieren können; man denke an die Scherbengerichte des TV, das die soziale „Todesstrafe" aussprechen kann, ohne dazu legitimiert zu sein.

Überdies: Wie soll jener Teil einer formell sozialistischen Gesellschaft genannt werden, dessen Angehörige das Wirtschaften und Verhalten der Mehrheit der Bevölkerung administrieren und selbst relativ hohes Einkommen beziehen, auch in Form von kommerzialisierbaren Privilegien?

Oder: Welchem Teil der Gesellschaft sind die höheren („eigentumslosen") Angestellten in einer gemischten Wirtschaft zuzurechnen? Die „kapitallosen Kapitalisten"?

Die sozialökonomischen Strukturwandlungen werden im Rahmen einer Perfektionierung der Ideologisierung der Politik weitgehend übersehen. Durch Projektion übertragen jene, welche die Gesellschaft in Bürger und Nicht-Bürger einteilen, alle von ihnen als sozial negativ klassifizierten Merkmale auf die von ihnen in spontaner Lust als „bürgerlich" gekennzeichneten Gegner; auch dann, wenn sie selbst unleugbar durch gleiche Kriterien (Einkommen, Konsumgüter) stigmatisiert sind.

Dadurch kommt es allmählich zu einer faktischen Egalisierung der sozialökonomischen Merkmale trotz einem konsistenten und geradezu modischkonsistenten dualistischen Kennzeichnungsprinzip.

Angestellte Unternehmer (als Eigentumsverwalter), selbst Eigentümer von relativ großen Fonds an Einkommen und Konsumgütern bezeichnen sich selbst zumindest als nicht-bürgerlich, ohne eine angemessene Kennzeichnung für ihre eigene Position in der Erwerbsgesellschaft zu finden.

Die Gesellschaft wird in zwei „pure classes" eingeteilt. Bei einer der beiden muß man „Unterschlupf finden. Es genügt etwa die Selbstetikettierung als „anti-bürgerlich" bei Verbergung dessen, was man bei anderen als „Reichtum" oder „Kapital" klassifiziert.

Obwohl man selbst vom Fonds der Merkmale, die man dem „Bürgerlichen" zurechnet, einen Gutteil aufweist, scheut man sich nicht, andere, die offenkundig gleiche Merkmale aufweisen, als „bürgerlich" zu bezeichnen.

Selbst rechnet man sich den „Lohnabhängigen" zu. Auch dann, wenn man den gleichen „Klubs" wie die „Lohngeber" angehört. Je nach Situation droht man mit der Faust. Oder öffnet diese und prostet sich zu. „Todfeinde" im Wahlkampf sitzen in der gleichen Loge beim Opernball. Bürgerliche und Antibürgerliche tragen den gleichen Frack. Nur das Herz schlägt differente Töne.

Die Sprache ist mehr denn je zum Instrument der versuchten Manipulation geworden. Auch das Signum „bürgerlich" .. .

Personen, die eitel die Merkmale der Bürgerlichen im Konsumbereich präsentieren, bekämpfen durch Rückgriff auf einen spezifischen Politkode eben dieses von ihnen übernommene Bürgerliche und sind sogar bereit - etwa bei einem Fabriksbesuch -, die Kleidung und die Umgangssprache zu wechseln, um nicht der Klasse der Bürger zugerechnet zu werden.

Daher zuweilen die Suche nach dem Realbürger, während es tatsächlich nur ein theoretisches Konstrukt „Bürger" zum Transparentmachen der komplexen sozialen Systeme gibt, in denen dem Eigentum an Produktionsmitteln keineswegs eine inferiore Bedeutung zukommt.

Neben der Eigentümerpyramide, die sich von (dem kleinen, sich selbst als bürgerlich bezeichnenden faktischen) Nichtbürger bis zur Spitzenposition des „Groß-Bürgers" entwickelt, gibt es eine durch „Spitzenlöhne" und politische oder soziale Privilegien konstruierte zweite Pyramide der „Lohnabhängigen", die man trotz faktischer Zugehörigkeit selbst vielfach nicht als bürgerlich kennzeichnen will, obwohl sie die gleichen Merkmale aufweist, die man dem „Bürgerlichen" zurechnet.

Dieser Beitrag von Univ.-Prof. Anton Burghardt. Vorstand des Instituts für allgemeine Soziologie und Wirlschaflssoziologie an der Wiener WirtschaTtsuniversität. ist der Publikation „Con-turcn" des „Instituts Tür Wirtschaft und Politik" entnommen.

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