Wenn man in Sarajewo "Herr Minister!“ ruft, dreht sich jeder Zweite um. Ein Witz ist bekanntlich umso komischer, je näher er der Wahrheit kommt. Der aufgeblasene bosnische Regierungs- und Verwaltungsapparat verschlingt Unsummen, weil alle drei Volksgruppen (muslimische Bosniaken, katholische Kroaten und orthodoxe Serben) ihre Günstlinge versorgen wollen. Die sich dann in dem komplizierten Staatsgebilde gegenseitig so blockieren, dass kein Handeln mehr möglich ist. Nach der Devise "teile und herrsche“ ist es den Politikern fast 20 Jahre gelungen, die vom Jugoslawischen Krieg traumatisierte und lethargisch gewordene Bevölkerung hinzuhalten. Mittlerweile ist Kroatien EU-Mitglied und Serbien Beitrittskandidat. Und Bosnien-Herzegowina? Das Land hat noch nicht einmal staatliche Institutionen, die mit Brüssel verhandeln könnten. Weil es nach wie vor aus zwei Teilen besteht: Der muslimisch-kroatischen Föderation und der bosnisch-serbischen Republik. Im vergangenen Sommer haben die Bosnier erstmals den Aufstand geprobt. Jetzt kamen sie wie ein Tsunami zurück. Diesmal war der Auslöser die Pleite von Staatsbetrieben. In mehr als 30 bosnischen Städten gingen Bürger auf die Straße. Regierungsgebäude wurden gestürmt und in Brand gesetzt.
Randale und Zerstörung sind niemals eine Lösung. Aber selbst der Hohe Repräsentant der EU in Sarajewo, der Österreicher Valentin Inzko, äußerte Verständnis. Inzko muss es wissen. Immerhin sitzt er seit Jahren als Vertreter der internationalen Gemeinschaft auf dem gut dotierten Posten. Einer Gemeinschaft, die nach dem Krieg mit dem Friedensabkommen von Dayton jene Strukturen erst geschaffen hat, die das Land jetzt unregierbar machen. Ganz Europa schaut derzeit verständlicherweise auf die Ukraine. Aber auch die Bosnier sollten in ihrer Verzweiflung nicht länger allein gelassen werden.
Die Autorin ist Korrespondentin der ARD in Wien
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