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Digital In Arbeit

„Wofür müssen die Söhne sterben?"

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„Laßt doch diese Balkanvölker einander die Köpfe einschlagen, wenn sie es nicht lassen können", ist ein häufiges Argument im Westen, um die Unterlassung einer militärischen Intervention in den Regionen, die vor etwa einem Jahr noch Jugoslawien hießen, zu motivieren. Ein anderes lautet: „Wie kommen unsere Söhne dazu, in einem solchen schmutzigen Krieg ihr Leben zu riskieren?"

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„Laßt doch diese Balkanvölker einander die Köpfe einschlagen, wenn sie es nicht lassen können", ist ein häufiges Argument im Westen, um die Unterlassung einer militärischen Intervention in den Regionen, die vor etwa einem Jahr noch Jugoslawien hießen, zu motivieren. Ein anderes lautet: „Wie kommen unsere Söhne dazu, in einem solchen schmutzigen Krieg ihr Leben zu riskieren?"

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Inzwischen werden allein in der-Stadt Sarajewo rund 300.000 Menschen, Zivilbevölkerung also, vollkommen schütz- und hilflos dem Tod durch Hunger, unter eingestürzten Mauern, durch Kugeln, die ihnen nicht persönlich gelten, ausgesetzt, eine Großstadt, die jahrhundertelang für ihre Kultur, auch ihre menschliche Kultur berühmt war, der Vernichtung für alle Zukunft preisgegeben.

Wer hat den europäischen Politikern gesagt, daß „die Völker des ehemaligen Jugoslawien einander hassen, einander umbringen wollen"?

Vielleicht wissen sie wirklich nicht, daß aus Sarajewo täglich Hilferufe von Anti-Kriegs-Organisationen, von Gruppen, denen Kroaten, Serben, Moslems angehören, die dort ausharren, an die Adresse der europäischen Staaten, ihrer Politiker, ihrer Bevölkerungen geschickt werden - die nichts anderes erflehen als die Wiederherstellung des Friedens.

Weil die staatlich kontrollierten Massenmedien in Serbien und in Kroatien nur marginal, wenn überhaupt darüber berichten, wissen sogar im Inland viele Menschen nicht, daß sich auch in Serbien, vor allem in Belgrad, in der Wojwodina, in Montenegro, Mazedonien, Kosovo, Kroatien, Slowenien zahlreiche Bürger in kleinen und größeren Gruppen organisieren und leidenschaftlich dafür einsetzen, daß der Krieg aufhören, daß der Mordrausch beendet, daß Friedensbereitschaft und Vernunft zurückkehren sollen - ohne Rücksicht darauf, daß sie mit solchen Aktivitäten ihren

Arbeitsplatz riskieren; sie lassen sich weder von Schikanen noch von Drohungen einschüchtern. Die Sehnsucht dieser Menschen nach wahrer Demokratie und nach Stütze aus Europa ist ebenso enorm - wie utopisch.

Denn vor lauter Bäumen erkennen die europäischen Politiker den Wald nicht - sie sehen und hören nur ihre Gesprächspartner, die serbischen und kroatischen Funktionäre, und verstehen nicht „die Stimme des Volkes". Darum begreifen sie nicht, daß nicht die Völker einander hassen, sondern die Politiker einander und die Völker hassen und darum zum Haß aufrufen. Sie sind wie besessen vom Vernichtungswillen - der „andere" darf nicht überleben. „Wenn wir schon dazu bestimmt sind, in die Hölle zu kommen, dann sollen alle diesen Weg gehen", sagte dieser Tage Radislav Vuki c, der Anführer der serbischen Partei in der bosnischen Krajina zu Journalisten.

Zehntausende von Wehrdienst- und Kriegsverweigerern, Serben, Kroaten, Albaner, Bosnier, „Jugoslawen", die ins Ausland fliehen oder im Untergrund leben müssen, sind ein weiterer lebendiger Beweis dafür, daß nicht „die Völker" den Bürgerkrieg führen wollen. Augenzeugen berichten, daß junge Soldaten von ihren Offizieren auf der Stelle niedergeschossen wurden, weil sie sich geweigert hatten, Frauen und Kinder zu töten.

Weil in den Städten und in den Dörfern in Bosnien-Herzegowina sehr viele Einwohner gehofft hatten, „wenn erst die Blauhelme hier sind, wird es Frieden geben", sind sie nicht recht -zeitig geflohen. Weil seither nicht nur die „Blauhelme" keinen Frieden schaffen konnten, sondern die europäischen Politiker rat-, hilf- und tatenlos verharren, sind die einen, wie schon gesagt, dem Sterben preisgegeben, und die anderen durchleben eine andere Art der Hölle. Die verdanken sie ganz konkret der Friedenskonferenz der EG, die teils auf eigene Initiative, teils den Vorstellungen der kriegführenden Politiker Serbiens und Kroatiens nachgebend, die ethnische Kantonisierung der ehemaligen Viel-völkerrepublik vorschlug. Dieser Prozeß ist bereits in vollem Gange und wird kaum je rückgängig gemacht werden können.

Während die Nachrichtensendungen für Millionen Seher in der ganzen Welt erschütternde Reportagen - von todesmutigen Kameraleuten gedreht - über den Untergang Sarajewos oder Dubrovniks ausstrahlen, verwirklichen die serbischen Truppen und lokalen Machthaber unter Ausschluß der Öffentlichkeit genau das Konzept der Belgrader Führung: Sie schaffen rein serbische Territorien. Zehntausende Menschen werden zwangsumgesiedelt, Zehntausende Familien werden lokal „ausgetauscht", Häuser, Höfe, Werkstätten, Geschäfte, Wohnungen müssen verlassen und anderen überlassen werden.

Nicht eine militärische Intervention der europäischen Staaten, die das Mandat hätten Krieg zu führen, ist zu verlangen - wohl aber eine militärische Aktion, die humanitäre Transporte sichert, die den Opfern zeigt, daß auch Politiker sich von einem humanen Verantwortungsgefühl gegenüber einem KSZE-Mitgliedstaat leiten lassen, und den Tätern zeigt, daß in einem zivilisierten Europa nackte Gewalt nicht zum Ziel führen kann.

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