Helfen ist jetzt Pflicht
Kluges Reden über die Ursachen der jüngsten Balkantragödie ist gut, schnelle Hilfe ist besser.
Kluges Reden über die Ursachen der jüngsten Balkantragödie ist gut, schnelle Hilfe ist besser.
Jeder hat es in den letzten Jahren begreifen gelernt: Je öfter die dunkle Stimme von ORF-Mann Friedrich Orter aus dem Fernsehgerät tönt, umso schlimmer geht es auf dem Balkan zu. Derzeit erlebt Europa eine Flüchtlingstragödie, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Über 750.000 Menschen soll das Kosovo-Drama bereits aus ihrer Heimat vertrieben haben. Wenn es so weitergeht, ist der Kosovo in zwei bis drei Wochen entvölkert, rechnen uns Experten bereits vor. Aber was sagen Zahlen? Genügt nicht der Blick in die Gesichter der zahllosen durchnäßten und erschöpften Menschen, die das Fernsehen täglich zeigt?
Sie besitzen nur noch das, was sie am Leib tragen, sie schleppen sich in langen Karawanen auf Gebirgspfaden an die Grenzen, und sie bangen auf ihrer Flucht in die völlig überforderten Nachbarländer vielfach nicht nur um ihre eigene Zukunft, sondern auch um ihre Angehörigen, wenn sie nicht schon schreckliche Gewißheit über deren Los haben. Denn viele von ihnen bringen auch unauslöschliche, fürchterliche Eindrücke mit, sahen ihre Häuser abbrennen, konnten gerade noch ihr eigenes nacktes Leben retten und durften nichts, auch keine Papiere oder Nachweise ihrer Identität, mitnehmen. Die Tatsache, daß vorwiegend Frauen, Kinder und Greise unter den Flüchtlingen sind, bestätigt letztlich jene Meldungen, daß viele Männer liquidiert oder in Lagern interniert wurden.
Die Fragen, wer an all diesem Elend schuld ist und ob man es verhindern hätte können, sind vorerst sekundär. Jetzt muß einmal rasch denen massiv geholfen werden, die sich in dieser Notlage befinden und die sicher zum allergrößten Teil überhaupt keine Schuld an diesem Krieg trifft. Helfen, das heißt Versorgung mit Nahrung und Medikamenten, mit Kleidung und einem Dach über dem Kopf, und zwar zunächst an Ort und Stelle, vor allem in Albanien und in Mazedonien.
Zu den dafür erforderlichen Mitteln kann jeder durch eine Spende beitragen, auch jeder Österreicher. Gerade weil wir nicht der an den Kampfhandlungen beteiligten NATO angehören, gerade weil wir noch ein neutraler Staat mit relativ geringen Militärausgaben sind, sollten wir rein humanitäre Ziele möglichst großzügig fördern - und dem übrigen Europa ein Beispiel geben.
Das gilt für die öffentliche Hand, aber auch für private Spender. Die Aktion "Nachbar in Not", die nun wieder auflebt, verdient jede Unterstützung. 500 Millionen Schilling hat die Regierung in Aussicht gestellt, Quartiere für 5.000 Flüchtlinge in Albanien und die Aufnahme von weiteren 5.000 Flüchtlingen in Österreich wurden angekündigt, letztlich sind das aber nur Tropfen auf den heißen Stein und immer noch beschämend für ein reiches Land, das noch Mitte März Asylansuchen von Kosovo-Albanern kühl abgelehnt und dabei bestritten hat, "daß im Kosovo eine Situation allgemeiner Gewalt vorliege".
Daß es damals die NATO-Luftangriffe noch nicht gegeben hat, ist eine Tatsache. Daß diese den Konflikt beschleunigt haben, läßt sich nicht bestreiten. Aber die serbische Methode der "ethnischen Säuberungen" war längst aus anderen Teilen des früheren Jugoslawien bekannt. Deren zunehmende Anwendung im Kosovo führte ja zu den abgebrochenen Verhandlungen mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic'. Daß Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines Staates (Jugoslawien) den Angriff ausländischer Mächte (NATO) auf diesen Staat auslösten, ist ein Novum und sicher auch deshalb nicht unumstritten, weil es selbstverständlich genügend andere Länder mit massiven Menschenrechtsverletzungen gibt, die keineswegs einen NATO-Angriff befürchten müssen.
Inzwischen sind natürlich alle klüger und wissen genau, was die NATO-Staaten bis zuletzt alles falsch gemacht haben. Man hätte die irrational enge Beziehung der Serben zum Kosovo, ihrem Kernland, wo sie vor Jahrhunderten von den Türken vernichtend geschlagen wurden und das zuletzt zu 80 bis 90 Prozent von Albanern bewohnt wurde, mehr berücksichtigen müssen. Man hätte schon vor Jahren Milosevic' stoppen und serbische Oppositionspolitiker stärker fördern müssen. Man hätte unbedingt das Einverständnis der UNO für die Luftangriffe besitzen müssen. Man hätte wissen müssen, daß die Bombardierungen eine Eskalation im Kosovo auslösen würden, und sich sofort auf die jetzige Flüchtlingswelle und den Einsatz von Bodentruppen einstellen müssen.
Doch es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob ein anderes Verhandeln oder ein geschickteres Eingreifen in die serbische Innenpolitik möglich gewesen wären. Man mag sich darüber freuen, daß Österreich nicht der NATO angehört, doch deren Balkan-Engagement ist nun einmal Faktum. Wenn "Ostermarschierer" den NATO-Rückzug ohne gleichzeitiges Einlenken von Milosevic' fordern, ist das nicht nur weltfremd, sondern unanständig. Denn es würde den Sieg der serbischen Auslöschungs-Politik im Kosovo bedeuten. Dies kann weder die NATO noch irgendwer, der Gefühl für Gerechtigkeit hat, hinnehmen. Und da die Serben sich leider auf eine "Alles oder nichts"-Politik eingeschworen haben, läuft alles auf ein NATO-Protektorat Kosovo hinaus, das dann schrittweise den heimgekehrten Albanern anvertraut wird. Das wird NATO-Bodentruppen erfordern und vermutlich noch viele unnötige Menschenopfer bedeuten.
Der gravierende Mangel des NATO-Vorgehens, die fehlende Zustimmung der UNO, offenbart wie damals, als unter deren Mantel amerikanische Spione im Irak agierten, die Krise der Weltorganisation. Wie die USA mit der UNO Katz und Maus spielen, ist kein Zustand. Zugleich gehört aber auch reformiert, daß ein einzelnes Veto notwendige UNO-Einsätze verhindern kann.
Gerade ein noch neutrales Österreich ist berufen, sich dafür einzusetzen, der Weltorganisation wieder mehr Geltung zu verschaffen. Gerade Österreich sollte jetzt gemäß dem Appell des Kärntner Bischofs Egon Kapellari den Opfern helfen, "bis es weh tut". Und gerade Österreich kann in nächster Zeit viel tun, um zur Versöhnung auf dem Balkan beizutragen. Es wird so oder so sehr lange dauern, bis die Wunden, die dort jetzt zwischen den Völkern aufgerissen und neu geschlagen werden, zu heilen beginnen.
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