Das verstimmte Klavier

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Zugegeben, es ist ungemein praktisch. Die Schriftgröße kann variiert, die Schriftart gewechselt, der "Mann ohne Eigenschaften" gespeichert und das Ganze in die linke Sakkotasche gesteckt werden: Deshalb benütze auch ich neuerdings ein E-Book.

Dennoch werde ich wohl nie ganz auf "echte" Bücher verzichten wollen. Man kann in ihnen nämlich nicht nur blättern und querlesen, es fehlt ihnen auch die glatte Zeitlosigkeit eines Datenspeichers. Sie bleiben an die Zeit gebunden, in der wir sie gekauft, gelesen oder einfach für später im Billy-Regal zwischengebunkert haben. Manche heben sich auf, bis wir sie beim ziellosen Stöbern in den angestaubten Bücherreihen als Zufallsfund wiederentdecken.

Vor wenigen Tagen erst fiel mein Blick auf ein Suhrkamp-Taschenbuch aus dem Jahr 1973, hinter dessen sattblauem Umschlag sich auf 802 dicht bedruckten Seiten der vom damals noch jungen Martin Walser verfasste Roman "Halbzeit" verbirgt. Offensichtlich hatte ich ihn damals, während ich mich gerade begeistert durch das Studium der Volkswirtschaft mühte, nur angelesen. Erst heute, mehr als 40 Jahre später, setze ich meine ersten Bleistift-Markierungen unter die unverdächtige Satzfolge: "Unbemerkt verstimmt sich ein Klavier. Was willst Du machen? Und wenn es soweit ist, hörst du nur noch die falschen Töne." Was ich an diesen aus dem Zusammenhang gerissenen Zeilen so besonders finde? Sie erscheinen mir wie eine Metapher für jene falschen Töne, die Vielen unser verstimmtes Wirtschaftssystem so dissonant erscheinen lassen, dass sie manchmal gar nicht mehr zu wissen scheinen, wie ein gut gestimmtes Klavier klingt.

Stimmen stattt zertrümmern

Oder anders gesagt: Der gute Klang eines wohltemperierten marktwirtschaftlichen Systems, das unter den richtigen Rahmenbedingungen Wohlstand und sozialen Ausgleich schafft, droht aus lauter kasinokapitalistischer Verstimmtheit in Vergessenheit zu geraten. So sehr, dass sich immer mehr Menschen dazu verleiten lassen, die Lösung zweifellos drängender Probleme fälschlicherweise in der Zertrümmerung des Klaviers zu sehen. Manche meinen, man könne wohl nur mehr den Zusammenbruch des Systems erhoffen, damit endlich Neues geschieht. Oder sie solidarisieren sich gar klammheimlich mit als Clowns verkleideten, gewaltbereiten Radikalen, die vor der Europäischen Zentralbank Autos anzünden und Polizisten verletzen.

Ich aber bin davon überzeugt - und noch finde ich mich nach heißen Debatten darüber einig mit einer Mehrheit - dass wir nichts anderes tun müssten, als endlich wieder das Klavier zu stimmen: für Finanzmarktstabilität sorgen, Verteilungsprobleme offen angehen, den freien Obertönen unternehmerischen Handelns Raum geben, das lahmende Pedal der Bürokratie und des Zentralismus lockern, die verstimmten Saiten der Parteilichkeit und des Lobbyismus wieder in Einklang mit dem öffentlichen Interesse bringen.

E-Books sind eine tolle Sache. Aber nur in wirklichen Büchern lassen sich zufällig Sätze finden, nach denen man gar nicht gesucht hat.

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