Lieber tot als gedemütigt

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"Die Brunnen der Wüste" von Sir Wilfred Thesiger: Ein klassisches Dokument über die versunkene Welt der Beduinen.

Es ist bezeichnend für den Bedu (gemeint ist: den Beduinen), dass er in all seinen Äußerungen nur das Extrem kennt, dass er entweder von unbeschreiblicher Großzügigkeit oder von unglaublicher Schäbigkeit ist. Er ist geduldig wie ein Lamm oder fast hysterisch erregbar, unwahrscheinlich tapfer oder unbegreiflich verzagt ... Der Bedu legt großen Wert auf menschliche Würde, und die meisten von ihnen sehen einen Mann lieber sterben als gedemütigt werden ...Wahrscheinlich vereinigt kein anderes Volk, die Gesamtheit wie der einzelne, in sich so viele Eigenschaften in so extremem Ausmaß."

Als Sir Wilfred Thesiger 1957 seine Beobachtungen über die Bewohner der Wüste Rub-al-Khali, das Leere Viertel auf der arabischen Halbinsel, niederschrieb, errichteten amerikanische Erdölgesellschaften gerade ihre ersten Bohrtürme. Thesiger erkannte, dass die Bedus, die ihn 16.000 Kilometer mit ihren Kamelen auf seinen Expeditionen in Südarabien begleitet hatten, vor der größten Veränderung ihres Lebens stünden und keinen Einfluss darauf haben würden: Wer heute in einem der futuristisch anmutenden Luxushotels der Golfregion Ferien macht, ahnt nichts vom Leben der Wüstenbewohner Arabiens noch vor 50 Jahren.

Analphabeten waren sie, arm, genügsam, stolz, klug, vertraut mit der feindlichen Natur, und vor allem frei. Die Freiheit fern aller Zivilisation hatte der heute 92-jährig in London lebende Wilfred Thesiger schon als Kind erfahren. In seinem Klassiker "Arabian Sands", 1959, jetzt überarbeitet neu aufgelegt, erzählt er: Geboren als Sohn des britischen Gesandten in Addis Abeba, zog es ihn nach der Schul- und Studienzeit in Eton und Oxford ("einer feindseligen und unbegreiflichen Welt") sofort zurück nach Abessinien. Seine erste Expedition führte ihn ins äthiopische Hochland, begleitet von einigen Somalis, völlig auf sich gestellt: "Oft war ich müde und durstig, und manchmal hatte ich Furcht und fühlte mich verlassen, aber ich schmeckte die Freiheit und lernte eine Lebensform kennen, aus der es kein Zurück mehr geben konnte."

Fünf Jahre lang erforschte er in Afrika die letzten unbekannten Winkel. 1938 erlebte er bei einem Besuch in der Sahara das Besondere der Wüste: "Jetzt war ich in der echten Wüste, wo es keine Unterschiede der Rasse, der Farbe, der Klasse und des Besitzes gibt, in der jeder Schein und jede Maske verschwinden und die Grundwahrheiten zutage treten ... In der Wüste hatte ich eine Freiheit gefunden, die in der Zivilisation nicht zu erlangen ist, ein Leben, das kein Besitz behindert, da alles, was nicht notwendig ist, eine Last bedeutet."

Während des Zweiten Weltkrieges brachte eine Heuschreckenplage den Mittleren Osten an den Rand einer Hungersnot. Der saudiarabische König bat die Engländer um Hilfe. Sie sollten die Brutstätten der sogenannten Wüstenheuschrecke suchen. Thesiger meldete sich freiwillig. Es war die Chance, in ein Land zu kommen, das vor ihm erst zwei Engländer bereist hatten: Rub-al-Khali, das Leere Viertel Südarabiens. Von 1947 bis 1949 durchquerte er in Begleitung von Beduinen zum Teil noch nie von einem Europäer betretene Salz- und Treibsandwüsten, kartographierte Berge und Brunnen, wurde in Stammesfehden der Nomaden verwickelt, entdeckte Zeugnisse uralter Kulturen und lernte die "Bedu", die Wüstenbewohner, schätzen und lieben. Da er ohne Diener reiste - die Beduinen waren seine Führer -, erkannte er zu seiner Verblüffung, "dass ich in ihren Augen als eine neue und höchst willkommene Einnahmequelle galt, sie jedoch nicht einen Augenblick an meiner Inferiorität zweifelten. Sie waren Mohammedaner und Bedu, ich war keines von beiden. Von Engländern hatten sie nie etwas gehört, und für sie waren alle Europäer einfach Christen, oder, noch wahrscheinlicher, Ungläubige, und irgendwelche Nationalität besagte ihnen gar nichts."

Thesiger, der durchaus Nationalstolz kannte, fühlte sich von seinen eigenen Landsleuten durch ein wesentliches Handicap getrennt. Bei der Begegnung mit Angehörigen der Royal Air Force in Arabien wurde ihm schlagartig klar: "Was sie interessierte, langweilte mich. Sie waren Kinder des technischen Zeitalters, fasziniert von Autos und Flugzeugen und suchten ihre Entspannung im Kino und am Radio. Ich wusste, dass ich ein Einzelgänger war und mich niemals unter ihnen zufrieden fühlen könnte wie unter den Bedu, zu denen ich aber nie gehören würde."

Das Britische Empire brachte so manchen Mann wie Thesiger hervor: In den Kolonien geboren, in der britischen Heimat nie zu Hause, mit einer Veranlagung zum Abenteurer, hart gegen sich selbst, von unbändigem Freiheitsdrang und zivilisationskritisch; dabei intelligent genug zu erkennen, dass man sich nie vollständig einer anderen Kultur anverwandeln kann. Vor einer besonders gefährlichen Durchquerung des Leeren Viertels, bei der er sich seinen Begleitern voll anvertrauen musste, notierte Thesiger: "Ich wusste, dass meine schwerste Probe die sein würde, mit ihnen zusammenzuleben, Herr meiner Ungeduld zu werden, mich nicht in mich zurückzuziehen, Maßstäbe und Lebensgewohnheiten, die sich von meinen unterschieden, nicht zu kritisieren. Ich wusste aus Erfahrung, dass die Bedingungen, unter denen wir lebten, mich im Lauf der Zeit körperlich, wenn nicht seelisch, zermürben und dass meine Begleiter mich oft reizen und aus der Fassung bringen würden. Und ebenso genau wusste ich, dass es mein Fehler und nicht der ihre wäre, wenn dies geschähe."

Thesiger begegnete einer ungebrochenen Tradition und Kontinuität der Naturbeobachtung, des Lebens mit Tieren, einer unerbittlichen und strengen Gesellschaftsform. Diese ist, wie er im Vorwort zur Neuausgabe schreibt, inzwischen verschwunden: "Wer heute nach dem Leben suchen wollte, das ich dort geführt habe, wird es nicht finden; denn nach mir kamen die Ingenieure und die Ölsucher. Heute ist die Wüste, durch die ich reiste, von den Spuren der Lastkraftwagen gekerbt und von den Abfällen der Importe aus Europa und Amerika übersät. Aber diese Schändung bedeutet wenig gegenüber der Demoralisierung, die unter den Bedu stattgefunden hat."

Schreibt hier ein Fortschrittsverweigerer oder ein Realist? Sein Buch "Die Brunnen der Wüste", reich illustriert mit Thesigers eigenen Aufnahmen, ist keine Verherrlichung einer wilden Vergangenheit voller Blutrache und Geringschätzung des Menschenlebens, sondern vermittelt die Sicht eines Mannes, der in Südarabien fand, was er suchte: "Ich ging in die Wüste, um in der Entbehrung der Wüstenreisen und in der Gesellschaft der Wüstenbewohner Frieden zu finden ... Es kommt nicht auf das Ziel an, sondern auf den Weg zum Ziel, und je schwerer dieser ist, desto lohnender ist auch die Reise." Ein Lese-Abenteuer!

DIE BRUNNEN DER WÜSTE. Mit den Beduinen durch das unbekannte Arabien. Von Wilfred Thesiger

Malik Verlag, München 2002

382 Seiten, kt., e 19,47

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