Von der Faszination des Lesens

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Wir können unser Gehirn durch das verändern, was wir lesen. Sprache und Inhalt des von uns Gelesenen beeinflussen von frühester Kindheit bis ins hohe Alter die Funktionsweise unseres Gehirns. Diese Fähigkeit sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

"Wir sind nicht zum Lesen geboren“, sagt Maryanne Wolf. "Der Mensch erfand das Lesen erst vor wenigen tausend Jahren. Und mit dieser Erfindung veränderte er unmittelbar die Organisation seines Gehirns, was ihm wiederum zuvor ungekannte Denkweisen eröffnete und damit die geistige Evolution seiner Art in neue Bahnen lenkte.“ Die in Boston forschende Psychologin setzt sich in diesem faszinierenden Buch mit den Grundlagen des Lesens auseinander und veranschaulicht, welch umgestaltende Macht das Lesen auf die menschliche Wahrnehmung hat.

Zu verdanken haben wir alles den Sumerern. Sie ließen ihre Kinder Wortgruppen in Keilschrift in feuchte Tontäfelchen pressen, und weil das menschliche Gehirn durch Erfahrung formbar ist, waren die Menschen damals flexibel genug, um lesen zu lernen.

Heute ist die Wissenschaft imstande, zu rekonstruieren, was beim Lesen im Gehirn passiert, und heute weiß man auch, dass die Grundlagen für einen gelungenen Leselernprozess schon sehr früh gelegt werden. Lange bevor ein Kind in die Schule geht, braucht es einen Erwachsenen, mit dem es gemeinsam Bilder ansieht, der ihm Geschichten erzählt und Reime vorspricht. Vorlesen ist die Grundlage der emotionalen Reifung, denn Geschichten eröffnen den Kindern die Welt der Gefühle. Mit dem Vorlesen von Geschichten entwickelt sich ein Verständnis für andere. "Wer selbst eine reiche Sprache hat, versteht andere besser. Der Wortschatz, den ein kleines Kind entwickelt, entscheidet darüber, welche Bedeutung es in einem Text finden kann. Für unseren Wortschatz gilt, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer werden. Ein geringer Wortschatz bei Fünfjährigen ist später kaum wieder aufzuholen“, so die international renommierte Hirnforscherin.

Legastheniker als Genies

Viel Raum widmet Maryanne Wolf den Lesestörungen und dabei besonders der Legasthenie. Ein Legastheniker ist demnach eine Person, die Probleme mit dem Rhythmus von Sprache oder eine geringe Verarbeitungsgeschwindigkeit für Texte hat. Der Rennfahrer Jackie Stewart gewann 27 Grand-Prix-Titel und war einer bekanntesten Sportler seines Landes. Bei einer Wissenschaftstagung über Legasthenie schloss er eine Ansprache mit den Worten: "Sie werden nie wirklich verstehen, was es bedeutet, Legastheniker zu sein. Sie werden nie verstehen, wie es sich anfühlt, die ganze Kindheit über gedemütigt zu werden und Tag für Tag eingeimpft zu bekommen, dass Sie es nie zu etwas bringen werden.“ Nun könnte man einwenden, dass es nicht so schwer sein kann, mit einer Lesestörung schnell mit einem Formel-1-Auto zu fahren. Doch wie ist das dann mit Thomas Alva Edison, Leonardo da Vinci und Albert Einstein? Es gibt viele Beweise dafür, dass sie Legastheniker waren. Auch Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche haben oft außergewöhnliche Begabungen, die aber wegen der Leseschwierigkeiten un- oder unterentwickelt bleiben.

Wir sind, was wir lesen und wie wir lesen. Lesen ist nicht nur eine herausragende Kulturleistung, sondern bestimmt auch maßgeblich die Architektur unseres Gehirns. Was aber passiert, wenn immer weniger gelesen wird oder wenn im digitalen Zeitalter das scannende, informationsverarbeitende Lesen, zu dem uns der Alltag drängt, auf Kosten des vertiefenden, interpretierenden Lesens überhandnimmt?

Wolf glaubt, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Entwicklung stehen und unser Gehirn mit seinem emotionalen Reichtum zu einem digitalen Gehirn werden könnte. Dadurch wäre die Fähigkeit, Querverbindungen zu knüpfen, Inhalte zu analysieren und mit Verständnis, Wissen und Kreativität unter die Oberfläche eines Textes vorzudringen, gefährdet: "Wir laufen Gefahr zu einer Generation von Informationsdekodierern zu werden, die ihr geistiges Potenzial nicht ausschöpfen, weil sie glauben, schon alles verstanden zu haben.“ Auch deshalb sei dieses Buch allen empfohlen, denen die Zukunft ihrer Kinder am Herzen liegt.

Das lesende Gehirn

Wie der Mensch zum Lesen kam - und was es in unseren Köpfen bewirkt

Von Maryanne Wolf, Spektrum Akademischer Verlag 2010

349 Seiten, e 15,40

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