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Viel wissen, aber ohne Alphabet?

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Unter Analphabetismus verstand und versteht man gemeinhin Schreib- und Leseunfähigkeit, eine Erscheinung, die sich in den sogenannten zivilisierten Ländern naturgemäß fast ausschließlich auf Kinder im Vorschulalter und Schwerbehinderte beschränkte.

Die Bestrebungen, jedem Kind die grundlegenden Kulturtechniken des Lesens und Schreibens in zufriedenstellender Weise zu vermitteln, haben in Österreich eine lange Tradition. Ganz bewußt hat der Gesetzgeber in unseren Tagen dem Anfangsunterricht in diesen Bereichen verhältnismäßig viel Zeit eingeräumt, nämlich zwei Jahre: „Am Ende der Grundstufe I muß das Kind in diesen Fertigkeiten einen Grad der Sicherheit erlangt haben, der ihm den Blick frei werden läßt für die Anwendung dieser Techniken in größerem Zusammenhang.“ (Lehrplan). Die Schüler sollen in diesen zwei Jahren die Fertigkeit erwerben, Texte geläufig zu lesen, ihren Sinn zu erfassen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, und darüber hinaus soll bei den Schülern die Motivation zum Lesen und Schreiben entwickelt werden.

Schon in diesem Stadium treten verschiedene Schwierigkeiten auf — etwa dadurch, daß Kinder ihre natürliche Neugierde und ihren Erlebnishunger, die wesentliche Voraussetzungen für die Lesemotivation sein könnten, auf viel bequemere Art, nämlich durch Fernsehen, Computerspiele und das „Lesen“ von Comics, stillen.

Eine andere Ursache für das Schulversagen von Volksschülern kann ein überzogenes, für den Großteil der Klasse unangemessenes Anfangstempo sein, das aus bildungsfähigen Kindern „didak-togene Legastheniker“ und Repetenten macht. Insgesamt kann aber durchaus behauptet werden, daß, von einer verschwindend kleinen Gruppe abgesehen, alle Schüler in unserem Land mit den grundlegenden Schreib- und Lesefertigkeiten vertraut werden.

Man wird sich an eine neue Definition des Analphabetismus gewöhnen müssen: eine Schreibund Leseunfähigkeit, die nicht angeboren, sondern erworben ist. Aus Untersuchungen wissen wir, daß es in den USA Jugendliche gibt, die durchschnittlich fünf und mehr Stunden pro Tag vor dem Fernsehschirm verbringen — und die Freizeitgewohnheiten der österreichischen Jugendlichen dürften sich nicht allzusehr von jenen ihrer amerikanischen Altersgenossen unterscheiden. Daß diese Jugendlichen weder Zeit noch Lust haben, etwas zu lesen, daß sie selbst nach einem erfolgreichen Schulabschluß sehr bald nicht mehr in der Lage sind, das Schriftbild komplexerer Sätze zu dechiffrieren, ist verständlich. Sie sind ja gewohnt, zum gesprochenen Wort oder Satz das dazupas-sende Bild oder Bildsymbol zu sehen.

Im Alltagsleben ersetzen Piktogramme, Bildsymbole und Einwortsätze (nicht zuletzt als Folge der zunehmenden Internationali-sierung) die Aufschriften, Gebrauchsanweisungen und Bedienungsanleitungen. Die Schreibleistungen des Durchschnittsbürgers beschränken sich nicht selten auf das-Einsetzen einzelner Wörter oder Wortgruppen in Rubriken oder das Ankreuzen irgendwelcher Kästchen. Auch in den Schulen werden häufig standardisierte Tests mit „Multiple-choice-Antworten“ gegenüber essayartigen Uberprüfungsformen, bei denen ganze Sätze zu konstruieren sind, bevorzugt. Bessere Ob-jektivierbarkeit und weniger aufwendige Auswertungsarbeit sind die Gründe dafür. Man schreibt nicht mehr Briefe, sondern telefoniert — ganz im Sinne der Postwerbung „Ruf doch mal an!“

Der neue Analphabetismus ist eine graduelle Schreib- und Leseunfähigkeit, gekennzeichnet durch den mangelnden Willen oder die Unfähigkeit, Begriffe und Bilder, die einem toten Zeichensystem innewohnen, mit Hilfe des Intellekts zum Leben zu erwecken. Wie kann jemand in Bildern denken, der gewohnt ist, mit (fertigen) Bildern „bedacht“ zu werden?

Dieser neue, erworbene Analphabetismus zwingt uns, alle herkömmlichen Definitionen von Bildung und Wissen - und deren gibt es nicht wenige - neu zu überdenken. Die Horrorvision eines Menschen, der über viel Wissen verfügt beziehungsweise jederzeit zusätzliches Wissen abrufen kann, ohne lesen und schreiben nach dem herkömmlichen Verständnis zu können, ist nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheint, wenn man an die jüngsten Tendenzen im Bereich der Medien und Informationstechnologien denkt. Zudem erhebt sich die Frage, ob in einer Zeit, in der der Computer bereits nahezu alle Lebensbereiche erobert hat, nicht auch jene Mitbürger, denen Computersprache(n) und -technik spanische Dörfer sind, Analphabeten genannt werden müßten...

Der Autor ist Landesschulinspektor für AHS in der Steiermark.

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